"Welche Blauäugigkeit!"

■ Der Streit um das Johnson-Erbe ist nicht vorbei: Ein Gespräch mit dem Johnson-Biographen Bernd Neumann über Liebesaffären, Schreibhemmungen und einen psychologisch ungeschickten Verleger

taz: Sind Sie Johnson zu Lebzeiten begegnet?

Bernd Neumann: Ich hatte sporadischen brieflichen Kontakt zu Uwe Johnson. Damals arbeitete ich an der FU Berlin. Einmal, ich glaube, es war im Herbst 1974, lud er mich in seine Stammkneipe ein. Johnson hatte ein leicht sardonisches Vergnügen daran, dem damals noch jungen Germanisten möglichst schnell so viel Alkohol zukommen zu lassen, daß er schon nach einer Stunde Schwierigkeiten hatte, zu argumentieren, was bei Johnson nicht der Fall war.

Wußten Sie von dem Erbschaftsstreit, als Sie anfingen, die Biographie zu schreiben?

Ich wußte davon überhaupt nichts. Mein Interesse an der Biographie entstand nach dem für mich sehr überraschenden Tod Johnsons.

Ich habe Elisabeth Johnson zweimal kontaktiert, sie hat mir beide Male sehr höflich, sehr kurz mitgeteilt, daß sie nicht an der Biographie mitzuarbeiten wünsche. Das habe ich respektiert. Desto überraschender ist, daß sie sich jetzt doch biographisch äußert, etwa über bestimmte, für die Biographie sehr wichtige Bereiche, nämlich über das, was sie als ihre Untreue bezeichnet, im Jahre 1961, vor allem auch über das Jahr 1975, in dem Johnson von der Untreue seiner Frau erfahren hat – das sind schon ganz wichtige Verankerungen der Johnsonschen Schreibbiographie.

Was ist wahr an Johnsons Vorwurf, seine Frau hätte Beziehungen zu einem Mann unterhalten, der Vertrauter des tschechoslowakischen Geheimdienstes gewesen sein sollte?

Meine Recherchen – und ich habe auch die Stasi-Akten eingesehen – haben keinen Hinweis auf eine eventuelle Tätigkeit dieses Mannes für den tschechischen Geheimdienst ergeben.

Litt Johnson wirklich unter einer Schreibhemmung, oder gehörte das – wie Gotzmann nahelegt – zur Legendenbildung?

Ich glaube, daß Gotzmann hier selbst eine neue Legende bildet. Nach allem, was man rekonstruieren kann, schließe ich es aus, daß diese Schreibhemmung – über die Johnson mehrmals geschrieben hat, über die briefliche Zeugnisse vorliegen, die auch an der Frequenz der Manuskriptablieferung ablesbar ist – nur erfunden ist. Ich schüttele ein bißchen den Kopf darüber, mit welcher Blauäugigkeit über die Qualen eines Menschen hinweggegangen wird, der sich in einem jahrelangen Prozeß das Schreiben wieder beibringen mußte. Uwe Johnson hat unter der Schreibhemmung gelitten, seitdem er 1975 um die Untreue seiner Frau wußte. Johnson lebte mit seiner Frau, ich sage einmal, in einer evangelischen Seelengemeinschaft, die unserer Zeit vielleicht gar nicht mehr zugänglich ist in ihrer absoluten und zum Teil auch erschreckenden Intensität.

Man muß sich klarmachen, daß Johnsons Schreiben in einem sehr starken Maße mit seiner Frau verbunden war. Nicht nur im Sinne von Mitarbeit, sondern in einem Sinne von „für den ersten Leser schreiben“. Seit 1975 war damit auch der Wunsch verbunden, sich sozusagen eine Wendung des Lebens zu erschreiben. Die Fortsetzung der „Jahrestage“ ist darauf hinkonzipiert, meine ich, den Zug mit Gesine nach Prag zu lenken, an die Stelle, wo alles einmal begann. Gesine, das Geschöpf Johnsons, hatte in der Realität eine Stellvertreterposition, die vielleicht Elisabeth hieß. Da hätte man auf dem Papier vielleicht sühnen können, was in der Realität des Lebens leider nicht so verlaufen ist.

Gotzmann schreibt, Unseld hätte Johnson genötigt, wieder zu schreiben ...

Ich bezweifle nicht, daß der Druck des Verlegers dazu beigetragen haben mag, Johnson wieder zum Schreiben zu bringen. Aber im wesentlichen war er in diesen Jahren selbst wieder bereit, an den „Jahrestagen“ zu arbeiten. In einem Brief an seinen Verleger meldet er, daß er voll am Produzieren sei, daß das Schreiben, „auch ferne der Maschine, bei Spaziergängen und beim Einkaufen, sich fortsetzt in Einfällen und Entwürfen“ – ein Jubelbrief. Dann kommt im Dezember – für mich völlig unverständlich – der Brief von Unseld, er würde daran denken müssen, die Zahlung des monatlichen Vorschusses einzustellen. Ein Brief, in dem Unseld gleichzeitig in einer psychologisch ungeschickten Weise stolz erwähnt, daß er es fertig bekommen hätte, seinen Sohn in den Verlag eintreten zu lassen. Mir ist unverständlich, wie man so etwas einem Autor schreiben kann, der ohne Familie in Sheerness lebt, und das nachher noch verkaufen will als ungetrübte Fürsorge.

Halten Sie die moralische Argumentation Gotzmanns gegenüber dem Verhalten Unselds für angemessen?

Ich verstehe sie zum Teil. In der Situation, in der der Autor meldet, es läuft bei mir, wäre es nicht nötig gewesen, mit dem ganz großen Geschütz zu kommen. Nur halte ich es für naiv zu glauben, daß sich Unseld ein Erbe erschleichen wollte. Die finanzielle Dimension dessen, was Johnson zu vererben hatte, war – glaube ich – nicht so bedeutend.

Ich glaube schon, daß eine realistische Einschätzung in dem Zitat von Max Frisch liegt, der mal gesagt hat, der Besitzer des Suhrkamp Verlages habe ein Verhältnis zu seinen Autoren wie ein Rennstallbesitzer zu seinen Pferden. Ich finde das eine ganz zutreffende Beschreibung. Bei alledem finde ich es bedauerlich, daß es bei der Diskussion um einen der größten deutschen Epiker nach 1945 wieder nur um die leidige Frage geht, wem es Johnson geschuldet hat, daß er geschrieben hat. Er hat es sich selbst geschuldet, vor allem seiner stupenden Fähigkeit, sich das Schreiben wieder beizubringen, nachdem ihn die größte Katastrophe ereilt hat, die einen so auf Innerlichkeit angelegten Menschen ereilen konnte. Interview: Peter Walther

Bernd Neumann ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Trondheim in Norwegen.

Werner Gotzmann: „Uwe Johnsons Testamente oder Wie der Suhrkamp Verlag Erbe wird“. Edition Lit.europe, Berlin 1996, 155 Seiten, 24 DM

Bernd Neumann: „Uwe Johnson“. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1994, 910 S., 78 DM