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■ Zerstochene Treckerreifen in Splietau, als der Castor schon rollte, schwer verletzte Sanitäter und demolierte Kinderwagen im Wald – abseits der Medienpräsenz war von der Deeskalationsstrategie der Polizeiführung beim Castor-Einsatz wenig zu spürenUnsere Polizei im Wendland – eine Nachlese

Am Wochenende nach dem Castor-Transport sind die „Bäuerliche Notgemeinschaft“ und die „Bürgerinitiative X-tausendmal quer“ im Wendland immer noch damit beschäftigt aufzuräumen. Die schlimmsten Verwüstungen hat – mit logistischer Unterstützung des Bundesgrenzschutzes – eine niedersächsische Polizeieinheit angerichtet. In einer Blitzaktion zerstachen etwa 25 Polizisten am Mittwoch zwischen 11 und 12 Uhr die Reifen von 30 Traktoren, die auf der Straße in Splietau ineinander verkeilt dem Castor den südlichen Weg nach Gorleben versperrt hatten. Sachschaden etwa 70.000 Mark. Die Kosten, die keine Versicherung übernimmt, sind geeignet, die „Bäuerliche Notgemeinschaft“ in den Ruin zu treiben, „eine Racheaktion“, so deren Sprecherin Susanne Kamien.

Der Castor rollte schon auf der Bundesstraße 191 nach Gorleben. Sechs BGS-Hubschrauber drehten plötzlich nach Süden ab. Zwei landeten auf einer Wiese und lenkten damit von den vier anderen ab, die am Ortsrand von Splietau niedergingen. Die Polizisten liefen mit Stichmessern, Schraubenziehern und Seitenschneidern zu den Treckern und stachen zu. Ein Reifen nach dem anderen verlor die Luft, Gefrierschutzmittel sickerte in den Boden. Landwirte aus den umliegenden Häusern erhielten von der Stechertruppe kein Wort der Erklärung. Die Polizisten schienen sich gut auszukennen. Die Trecker, die den exponiertesten Vertretern der „Notgemeinschaft“ gehören, zum Beispiel Hermann Bammel, erhielten die meisten Stiche. Insgesamt wurden 44 Reifen durchstochen und bei weiteren 16 die Ventile durchschnitten. Nach kaum fünf Minuten verschwand die Truppe.

In der Nacht zum Mittwoch hatte sich die Gewalt der Polizei auch gegen Sanitäter gerichtet. Mehrere hundert Demonstranten hatten versucht, in einem Waldstück auf die Castor-Transportstrecke zu gelangen. Einige schossen Leuchtspurmunition in Richtung Straße. Daraufhin stürmte die Polizei in den Wald und prügelte die Leute mit Schlagstöcken. Zwei Demo-Sanitäter hielten sich im Hintergrund. Plötzlich trafen sie auf fünf Polizisten. Obwohl sie deutlich als Sanitäter gekennzeichnet waren und den Polizisten das auch zuriefen, wurden sie mit Knüppeln niedergeschlagen und getreten. Einer der beiden Sanis stellte sich bewußtlos. Dennoch wurde er weiter geprügelt. Mit einer Gehirnerschütterung, einer gebrochenen Rippe und Prellungen ließen ihn die Beamten im Wald liegen. Der zweite Sanitäter wurde mit einem Kabelbinder aus Plastik an den Händen gefesselt und zur Straße geführt. Dort blieb er trotz seiner Verletzungen eine Stunde liegen, von vorbeikommenden Polizeitrupps mit Schimpfworten und Tritten bedacht. Vier weitere Stunden verbrachte er gefesselt in einem Gefangenen-Kfz, erst dann wurde er in ein Krankenhaus gebracht. Seine Bilanz der Begegnung mit den Staatsdienern: Gehirnerschütterung, Prellungen an Rippe und Kiefer und taube Stellen an den Händen von den Kabelbindern.

Auch Kinderwagen waren vor der Polizei nicht sicher. Am Mittwoch demonstrierten etwa 200 Eltern mit ihren Kindern in Langendorf. Schon Tage vorher hatten sie die Gefährte der Kleinen an der Kirche gesammelt. Am Dienstagnachmittag beobachtete die Langendorfer CDU-Ortsverbandsvorsitzende, wie Polizisten in vier Streifenwagen am Waldrand hielten, fünf Kinderwagen ausluden, demolierten und in den Wald schmissen. Die Augenzeugin notierte die Kennzeichen, die Eltern verlangen Schadenersatz.

Die 77 verletzten Polizisten sind zum Teil nicht direkter Gewalt von Demonstranten zum Opfer gefallen. Die Einsatzleitung zählte in ihrer Bilanz etwa den im dunklen Wald verstauchten Fuß, die Zerrung beim Wegtragen von Demonstranten oder den Nasenbeinbruch beim selbst verursachten Verkehrsunfall zu den einsatzbedingten Verletzungen. Inzwischen steht fest, daß die Mehrzahl der Verletzungen von etwa 300 Castor-Gegnern auf Fußtritte, Schläge mit der Faust oder dem Knüppel bei der Räumung der Sitzblockade bei Dannenberg zurückzuführen ist: So hat etwa ein Arzt, der vor Ort eingesetzt war, allein bei einem 24jährigen Blockierer zahlreiche Hämatome im Gesicht, die „auf 10 bis 15 Faustschläge zurückgingen, eine Nasenprellung, eine Platzwunde am Jochbein und eine Nierenprellung durch zwei Kniestöße“ festgestellt. Durch Faustschläge und Tritte wurden die Sitzblockierer vor allem in der Zeit zwischen sieben und halb zehn am vergangenen Mittwoch verletzt, bevor die Einsatzleitung dann auch mit Knüppeln auf die Castor-Gegner einschlagen ließ. A. Kugler, R. Metzger, J. Voges

Die taz ruft zu Spenden für die Bäuerliche Notgemeinschaft auf: Bäuerliche Notgemeinschaft, Kreissparkasse Lüchow, BLZ 513 35 258, Kto. Nr. 8904.

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