: „Keine Nahrung, nur Armut und Verbrechen“
■ Auf Flößen, Kuttern und Marineschiffen treffen Albaner in Italien ein. Die Küstenwache läßt sie seit gestern ins Land. Viele wollen „auf gar keinen Fall zurück“
Die Anordnung ist knapp, präzise und unmißverständlich: „Hauen Sie ab. Hier ist militärisches Sperrgebiet.“ Die Hand mit der Maschinenpistole senkt sich etwas, der Griff nach dem Fotoapparat zeigt die Entschlossenheit des Offiziers. Doch hat der Befehl einen Haken: Er entbehrt jeglicher Rechtsgrundlage. Denn niemand hat die Umgebung des Hafens und die Piazza Santa Teresa im süditalienischen Brindisi wirklich zum Sperrgebiet erklärt. Doch nachfühlen kann man es dem Feldwebel schon. Wo immer ein Uniformierter auftaucht, umlagern ihn Reporter: „Kommt der Massenexodus? Laßt ihr die Albaner ins Land? Habt ihr überhaupt genug Aufnahmeplätze? Wie viele sind schon unterwegs?“ Und keiner weiß Antworten darauf.
Sicher ist: Hier in Brindisi, weiter südlich in Otranto, etwas nördlicher in Bari wimmelt es von Soldaten, sind die Häfen nicht nur voll von Küstenwachbooten, sondern auch von Schiffen der Kriegsmarine und deren Besatzungen. Und jede Minute gibt es neue Gerüchte, neue Dementis, neue Gerüchte. In der Nacht zum Freitag berichteten einige Matrosen, sie hätten über Funk von mindestens achtzig Flüchtlingsschiffen gehört, die sich in Richtung Italien aufgemacht hätten. Später waren es nur noch fünfzig, dafür aber sollen zusätzlich zahlreiche Marineeinheiten der Albaner mit Ziel Otranto und Brindisi darunter sein.
In den Hafen eskortiert haben die Behörden in der Nacht nach offiziellen Angaben tatsächlich ein Torpedo- und ein Kanonenboot, beide noch voll bewaffnet, aber mit weißen Fahnen über den Masten. Auch einige albanische Hubschrauber sind gelandet. Informationen kommen allenfalls über ein paar Rotkreuzhelfer.
Ein Küstenwächter: „Die Albaner brechen durch“
Doch hinter vorgehaltener Hand flüstert auch unser unnachgiebig auf Abmarsch drängender Feldwebel: „Die Albaner brechen durch. Aber bitte vermehrt die Konfusion nicht auch noch durch eure Artikel. Wir wissen doch selbst nicht, was wir machen sollen. Nicht, daß am Ende so ein Verzweifelter sich mit seinem Kanonenboot den Weg freischießt.“
Guter Rat ist tatsächlich teuer. „Wie ein Lauffeuer“, berichtet eine Nonne, die am Morgen mit drei Dutzend weiteren Klosterschwestern in Italien gelandet ist, habe sich in Albanien die Nachricht verbreitet, daß Italien derzeit Flüchtlinge nicht mehr zurückschicke. „Die Häfen von Durräs und Vlorä sind brechend voll mit Menschen, die sich auf die Schiffe drängeln.“ Seit der heftige Wind abgeflaut ist, haben auch wieder Eigenbau- und Minischiffchen Konjunktur. „Mindestens ein Dutzend Flöße haben wir gesehen“, sagt die Schwester.
Die Hoffnung, von Fischkuttern aufgesammelt und doch noch nach Italien gebracht zu werden, „ist mittlerweile gleich Null“, sagt Germano Dell'Erma von der italienischen Küstenwache, „die sind nämlich auch schon alle voll“. Die Küstenwächter sind ebenso überfordert wie die Helfer: „Bis vorige Woche hatten wir für jedes verdächtige Schiff gut vier bis fünf Boote unserer Küstenwache, um es zurückzueskortieren. Jetzt haben wir allenfalls noch zwei. Da reagiert auch kein Fischkutter mehr auf unser ,Halt‘. Im Gegenteil: Kaum nähert sich eines unserer Boote, springen drei Dutzend Leute ins Wasser und schwimmen auf uns zu.“
In leeren Lagerhallen, aber auch in voll betriebenen Schulen des südlichen Apulien sind inzwischen Rotkreuzhelfer angerückt und bereiten mögliche Notaufnahmelager vor. Militäreinheiten haben Plätze für Notzelte requiriert. „Gott sei Dank passiert das alles im Frühjahr“, sagt ein Mitarbeiter des Sonderkommissariats für das Flüchtlingswesen. „Wenigstens tagsüber ist es schon angenehm warm.“
Viele der Flüchtlinge, so stellen die Behörden fest, wollen „auf gar keinen Fall mehr zurück“, selbst wenn sich die chaotische Lage in der Heimat stabilisiert. „Was sollen wir dort, fragen die uns“, sagt einer der Helfer, „es gibt keine Arbeit, keine Lebensmittel, nur Krankheit und Armut und Verbrechen.“ Und ganz besonders grimmig gucken diese Menschen, wenn ihnen ein Beamter behutsam zu erklären versucht, daß Europa Albanien bald eine Menge Hilfsgüter und viel Geld zum Neuaufbau ihres Landes schicken wird. „Auf solche Sprüche“, so der Rotkreuzmann, „antworten die dann: Ja, ja, das habt ihr uns auch schon vor fünf Jahren versprochen, als unsere geflüchteten Landsleute zu Tausenden zurückgeschickt wurden. Gekommen ist bis heute nichts.“
Tatsächlich waren damals an die zehn Milliarden Dollar versprochen worden – bis die Flüchtlinge wieder aus Italien weg waren. Danach tröpfelten gerade mal 50 Millionen über die Adria. Werner Raith, Brindisi
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen