: Die Lehren aus Krefeld
■ Ankaras Spiel mit dem Feuer ging nicht auf
So schnell ändern sich die Kräfteverhältnisse. Gestern noch glaubten die türkische Innenministerin Meral Aksener, der türkische Ministerpräsident Necmettin Erbakan und zahlreiche Kommentatoren, am längeren Hebel zu sitzen. Als hätten sie nur auf diese Gelegenheit gewartet, zögerten sie nach dem Krefelder Brandanschlag keinen Augenblick, die Bundesrepublik am moralischen Nasenring durch die Arena zu zerren. Mit einer Verbaloffensive gegen das „faschistische Deutschland“ sollten innen- sowie außenpolitische Rechnungen beglichen werden. Erbakan hoffte, die Reihen der Antiwestler in der Türkei fester zu schließen. Andere versprachen sich eine Atempause von den Anschuldigungen, tief mit dem politkriminellen Milieu der Türkei verstrickt zu sein.
Nachdem der Mann und Vater der Brandopfer als Tatverdächtiger festgenommen wurde, kann Außenminister Klaus Kinkel befreit durchatmen und Richtung Ankara zurückblaffen. Für Kinkel auch eine späte Genugtuung für den demütigenden Empfang in Ankara vor zwei Wochen. Mit Kinkel dürfen sich die Deutschen als moralische Sieger im jüngsten deutsch-türkischen Schlagabtausch fühlen: Nein, ganz so schlimm, unbelehrbar und rassistisch, wie der Rest der Welt glaubt, sind wir nun doch nicht. Wird Krefeld nach Lübeck nun der Ort Nummer zwei, mit dem sich die Sehnsucht nach deutscher Normalität untermauern läßt?
Verlierer in diesem Trauerspiel sind die Deutschtürken, denen in diesen Tagen drastisch vor Augen geführt wurde, daß sie auf sich allein gestellt sind. Die politisch Verantwortlichen in Ankara haben einmal mehr versucht, sie als außenpolitische Manövriermasse zu mißbrauchen, indem sie aus der tiefen Verunsicherung der hierzulande lebenden Türken politisches Kapital schlagen wollten. Billigend haben Regierungskreise in Ankara dabei in Kauf genommen, daß für viele Deutschtürken noch vor Klärung der Hintergründe das Ende des Erträglichen erreicht ist und tatsächlich nicht mehr viel fehlt, bis sie ihre Wut auf die Straßen der Republik tragen. Die Rechnung ist nicht aufgegangen. Von deutscher Seite fehlte in den letzten Tagen ein klares Bekenntnis zu ihren deutsch-türkischen Bürgern.
Einzig die deutsch-türkischen Interessenverbände haben in den schwierigen Tagen der Unklarheit über die Tathintergründe einen kühlen Kopf behalten. Weder haben sie sich vor dem Karren Ankaras spannen lassen noch sich ihrerseits zu vorschnellen Schlußfolgerungen hinreißen lassen. Zu den Verlierern gehören sie trotzdem: Sie müssen sich gegenüber deutschen Gesprächspartnern nun für den Furor aus Ankara rechtfertigen. Gleichzeitig wird die Integrationsfähigkeit von so manchem Bundesbürger nun etwas lauter bezweifelt werden. Eberhard Seidel-Pielen
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