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Brite, Sozialist, Sikh

Die Muslime aus Bradford sind im britischen Wahlkampf umworben – und Themen wie Europa und die EU spielen keine Rolle. Für Labour kandidiert Marsha Singh, ein Sikh  ■ Aus Bradford Ralf Sotscheck

Mohammed ist wütend. Er ist von seinem Stuhl aufgesprungen, gestikuliert heftig mit den Armen und ruft irgend etwas auf Punjabi. Der stellvertretende Stadtratsvorsitzende, an den die Worte gerichtet sind, versteht kein Wort. Er ist der einzige Engländer im Saal. Die anderen, die sich im Altenzentrum des Rats der Moscheen im nordenglischen Bradford getroffen haben, sind Pakistanis und Inder.

Eigentlich wollte der Stadtrat nur Marsha Singh vorstellen, den Labour-Kandidaten für die Unterhauswahlen am 1. Mai. Doch im Wahlkreis West-Bradford, wo die Labour Party in der Kommunalpolitik das Sagen hat, gibt es große Probleme beim öffentlichen Wohnungsbau. Viele Häuser seien eigentlich unbewohnbar, hat Mohammed moniert, aber es ist kein Geld für die Renovierung da. Das sei die Schuld der Tory-Regierung, verteidigt sich der Stadtrat, nachdem man ihm die Vorwürfe übersetzt hat. Marsha Singh und Tony Blair werden die Sache schon in Ordnung bringen, sagt er.

Die Ausrede scheint nicht zu ziehen, zumal die Labour Party gerade erklärt hat, daß sie die Tory- Politik bei der Finanzierung der Kommunen unverändert übernehmen werde. Die Männer reden aufgebracht auf den Stadtrat ein, der langsam ins Schwitzen kommt. Er ist korpulent, hat einen gepflegten Bart und trägt eine blaue Hose sowie ein schlecht sitzendes, braunkariertes Jackett, an das eine rote Labour-Rosette geheftet ist. Mit einem Taschentuch wischt er sich immer wieder die Stirn ab.

Da kommt ihm der pakistanische Wahlkampfleiter zu Hilfe. Khalid Singhal läuft auf die Störenfriede zu, bohrt wie ein Schullehrer mit seinem Zeigefinger in die Luft und spricht ein paar scharfe Worte auf Punjabi. Dabei funkeln seine Augen, und sein grauer Schnurrbart vibriert. Sofort kehrt Ruhe ein. Singhal lächelt zufrieden. Dann erteilt er dem Labour-Kandidaten das Wort.

Marsha Singh, 42, ist Sikh. Im Alter von zwei Jahren ist er nach Bradford gekommen, sein Punjabi ist entsprechend schlecht. Immer wieder streut er englische Worte ein, als er seinen Lebenslauf beschreibt: verheiratet, zwei erwachsene Kinder, Universitätsabschluß in europäischer Politik und Wirtschaftskunde, Mitglied im antifaschistischen Verteidigungskomitee, Angestellter im Gesundheitsamt. „Ich bin Brite, und ich bin Sozialist“, sagt er.

Marsha Singh ist untersetzt, seine Haare und sein kurzer Bart sind ergraut. Er spricht leise und ruhig, hebt die Stimme kein einziges Mal. Die vierzig Männer im Raum hören geduldig zu. Es sind fast ausschließlich Muslime, nur Mahan ist Sikh wie Marsha Singh. Man erkennt ihn an seinem hellblauen Turban – außer den Labour-Rosetten der einzige Farbfleck im Raum. Nach dem Sikh-Gelöbnis schneidet sich Mahan nicht die Haare. Er hat sie zu dünnen Zöpfen zusammengezwirbelt und ums Kinn gewickelt. Frauen sind nicht zu der Wahlkampfveranstaltung gekommen. Sie haben mit Politik nichts im Sinn, sagt Mahan.

Die Themen, die den Wahlkampf anderswo bestimmen, spielen hier kaum eine Rolle, Europa und die EU interessieren niemanden. Auch Labours Wende nach rechts wird nicht angesprochen. Es geht nur um zwei Themen: die Diskriminierung islamischer Schulen, die im Gegensatz zu den katholischen Schulen staatlich nicht unterstützt werden, sowie die Unabhängigkeit Kaschmirs. Er werde sich für beides einsetzen, sagt Singh, und dann verspricht er, das Thema Kaschmir bei seiner Jungfernrede im Unterhaus zu erwähnen, wenn er gewählt wird.

Seine Kandidatur ist nicht unumstritten. Sein Vorgänger, der Labour-Abgeordnete Max Madden, hatte Anfang des Jahres erklärt, er wolle nicht mehr kandidieren. Kurz vor Nominierungsschluß änderte er seine Meinung – zu spät: Einen so wechselhaften Kandidaten wollte der Labour-Ortsverband nicht. Nun ist Madden dazu verdammt, seinem designierten Nachfolger auf Fotos und bei Wahlkampfveranstaltungen die Hand zu schütteln, um Einigkeit zu demonstrieren.

Madden hatte gegenüber Singh einen Vorteil: Er ist Engländer, und das hatte ihn beim muslimischen Bevölkerungsteil paradoxerweise unverdächtig gemacht. Von ihm als Außenstehendem erwartete man nicht, daß er sich für muslimische Themen stark machte. Singh dagegen wird von den Muslimen argwöhnisch beobachtet. Wie kann sich ein Sikh für unsere Belange einsetzen, fragen sie sich. „Ich bin ein säkularer Sikh“, sagt Singh, „es geht bei dieser Wahl doch nicht um Religion. Es sind die Tories, die rassistischen Haß schüren und religiöse Trennlinien aufbauen wollen.“

Die Tories, die in West-Bradford noch nie einen Blumentopf gewinnen konnten, haben einen muslimischen Kandidaten aufgestellt. Riaz heißt er, und er hat Wirtschaft an der Universität London studiert. Bei den vorigen Wahlen vor fünf Jahren ist er im Wahlkreis Nord-Bradford gescheitert. „Wenn er seine muslimische Herkunft so hervorhebt“, sagt Marsha Singh, „dann wäre es ehrlicher, wenn er für die Islamische Partei kandidieren würde.“ Die hat in Bradford jedoch keine Chance, obwohl keine britische Stadt einen höheren muslimischen Bevölkerungsanteil hat. David Musa Pidcock, der Vorsitzende der 1989 gegründeten Islamischen Partei, gewann nicht mal ein Prozent der Stimmen. Max Madden kam dagegen auf mehr als 53 Prozent und lag damit 20 Prozent vor dem Tory- Kandidaten. Sollte Riaz ein bißchen besser abschneiden, wäre das ein großer Erfolg für ihn, denn Großbritanniens Immigranten standen der Labour Party schon immer näher als den Tories, auch wenn die einen Muslim ins Rennen schicken.

In Bradford leben 70.000 asiatische Immigranten, davon 50.000 Muslime aus Pakistan, ein paar auch aus Bangladesch. Die übrigen sind Sikhs sowie Hindus aus der südindischen Provinz Gujarat und zu geringerer Zahl aus dem Punjab. Bradford hatte 1985 als erste Stadt Großbritanniens mit Mohammed Ajeeb einen muslimischen Bürgermeister.

Die Stadt gilt als „Curry-Hauptstadt Großbritanniens“. 1978 gab es rund 600 asiatische Restaurants und Lebensmittelläden, sechs Jahre später hatte sich die Zahl verdoppelt. Das lag vor allem am Niedergang der Textilindustrie Ende der siebziger Jahre. Die meisten Immigranten hatten in den Spinnereien gearbeitet und ihr wirtschaftliches Überleben künstlich verlängert, weil sie für die Hälfte des Durchschnittslohns arbeiteten. Doch als die Rezession zuschlug, war trotz der geringen Lohnkosten endgültig Schluß.

Die Fabrikbesitzer hatten Ende der fünfziger Jahre in Indien und Pakistan Stellenangebote annonciert, weil die neuen Maschinen rund um die Uhr laufen mußten, wenn sie sich rentieren sollten. Viele kamen aus der Mirpur-Region, wo ganze Dörfer nach dem Bau des Mangla-Staudamms in den Fluten versanken. Von ihrer Entschädigung kauften sich viele eine Fahrkarte nach Großbritannien. Im Cartwright-Museum im Lister Park zeigt eine Fotoausstellung die Geschichte der Mirpur- Region und ihrer Auswanderer.

Gut hundert Jahre zuvor waren es die Deutschen gewesen, die in großer Zahl nach Bradford kamen. Allerdings war es nicht wirtschaftliche Not, die sie in die Emigration trieb. Die wohlhabenden Handelsleute aus Köln, Hamburg und Hannover kamen vor allem aus Geldgier: Sie hatten erkannt, daß man im Großbritannien der Industrialisierung immens reich werden konnte. In ihrem Gefolge kamen die Kleingewerbetreibenden und die Arbeiter, so daß im Stadtteil Manningham eine deutsche Kolonie mit deutschen Schulen, Kirchen, Clubs und einem Schillerverein entstand. Der Dichter J.B. Priestley schrieb Anfang des Jahrhunderts über Bradford: „Ein Spritzer vom Rhein und von der Oder hat sich in unser eigenes trübes Rinnsal, den schmutzigen Beck, gemischt.“ Dann kam der Erste Weltkrieg, und die Deutschen verschwanden. Aber bis heute heißt es „Little Germany“.

Marsha Singh hat 25 Jahre in Manningham gelebt. Jetzt ist er froh, daß die Veranstaltung im Seniorenclub des Rats der Moscheen vorbei ist. Singh kommt aus einer anderen Welt als die meist muslimischen Bewohner der Ryan Street mit den kleinen, zweistöckigen Sozialbauhäusern aus dem für Bradford typischen hellbraunen Naturstein. Er steigt in sein Auto und fährt ins Wahlkampfbüro an der Lumb Lane.

Das heruntergekommene Viertel mit seinen leerstehenden Fabriken und trostlosen Wohnsiedlungen war früher der Rotlichtbezirk Bradfords, wo sogar eine Fernsehserie spielte. Vor zwei Jahren fingen die Anwohner, fast alle Muslime, einen Kleinkrieg gegen die Prostituierten an. Die Frauen wurden verprügelt, die Autos ihrer Freier demoliert, und heute gibt es in der Lumb Lane keine Prostitution mehr.

Das Labour-Wahlkampfbüro ist in einer Seitenstraße in den Räumen der ehemaligen Rolex- Handelsgesellschaft untergebracht. Es geht zu wie auf einer Baustelle, überall liegen Schutt und Gerümpel. An der Wand hängt eine pakistanische Fahne, für fünf Pfund kann man sie kaufen. Daneben klebt ein Sticker, auf dem eine schwarzhaarige Schönheit mit großen, goldenen Ohrringen verkündet, daß sie Kaschmir liebt. Neben dem Eingang sind hundert Holzpfähle aufgestapelt, zwei Meter lang und am Ende angespitzt. „Für die Wahlplakate“, erklärt Singh.

Marsha Singh, den der Guardian in einem Wahlbericht wegen seines Vornamens für eine Frau hielt, setzt sich zu seinen Wahlhelfern an einen großen Tisch am Fenster. Man bespricht die Planung für den nächsten Tag. Singh will in der Victor Road, die direkt auf den Lister Park führt, für Wahlstimmen werben. Da flüstert ihm einer etwas ins Ohr. „Ich erfahre gerade, daß wir morgen nicht auf Stimmenfang in die Victor Road gehen können“, sagt Singh. „Es ist nämlich Baisakhi.“ Das ist ein Sikh-Feiertag, an dem Gobind Singh 1699 den Kriegerbund Khalsa gegründet hat. Das hatte Singh nicht gewußt. Er ist eben ein weltlicher Sikh.

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