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Jugend ohne Schallgrenzen

■ Die walisische Komödie Twin Town ist ein Crash-Kurs über die Häutung des Kapitalismus

Wer in Wales nicht verratzt, der ist exzentrisch, verliebt oder Patriot. Denn die Ecke links unten an der Ferse von Britannia, die dem ungeliebten Thronfolger seinen Titel leihen muß, ist selbst im Stammland des Spleens noch ein sehr eigener Kosmos. Die Liebe der autonomiefreu-digen Nachfahren der britischen Kelten zum Männergesangsverein oder die beharrliche Euphorie für den Volkssport Rugby, mit dem man allerdings nie einen Blumentopf gewinnt, gehören ebenso zum schrulligen Waliser Selbstbewußtsein wie die Standfestigkeit selbst junger Menschen, die kymrische Tradition im walisischen Dialekt zu bewahren.

Aber mit Wurzelfühlung und Männerbündischem läßt sich längst nicht mehr der ganze Waliser nachweisen. Drogen, Fußball, Atomkraft, Korruption und Karaoke haben auch dieses stolze Volk infiltriert und einen verzweifelten Humor gezeugt, den auch Nicht-Waliser verstehen. Allerdings bedarf es schon zweier völlig vernunftrasierter Knallköpfe wie der Lewis-Zwillinge, damit die provinzielle Enge einer vergessenen Stadt wie Swansea in grotesker Komik explodiert.

Kevin Allens Komödie Twin Town kennt folglich kein Pardon. Seine beiden Helden Julian (Llyr Evans) und Jeremy (Rhys Ifans) Lewis, Brüder, die man dank ihrer verschworenen Tugendlosigkeit „Zwillinge“nennt, verbringen ihre Tage damit, Autos aufzubrechen und mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch die Straßen der grauen Stadt zu schleudern, Betäubungs- und Rauschmittel in allen Formen und Dosen zu konsumieren und Wettspiele über Sportereignisse abzuhalten: Wer eine Frage nicht beantworten kann, der muß einen tiefen Zug aus einer selbstgebastelten Wasserpfeife nehmen und viele Sekunden im Badewannenwasser verschwinden. Das ist doch Humor, den auch deutsche Halbmenschen wie Hans Meiser verstehen müssen.

Dieses beschauliche Leben könnte eigentlich immerfort so weitergehen, wäre da nicht ein kleines Ereignis, das eine fröhliche Todesspirale in Bewegung bringt: Papa Lewis fällt beim Schwarzarbeiten für den Lokalmafioso von der Leiter, und der Schmierenwicht will kein Schmerzensgeld zahlen. Nun laufen Julian und Jeremy zur Hochform auf und legen sich so angstfrei, wie es nur aus dem chemischen Paralleluniversum der jugendlichen Apotheke gelingt, mit Bryn Cartwright und seinen korrupten Polizei-Handlangern an.

Twin Town ist ein typisches Produkt des neuen britischen Sozial-Realismus, wie er auch in der jungen Kunst momentan die erste Geige spielt. Der proletarische Alltag wird zum Schauplatz lustvoller Betrachtungen über die Sinnlosigkeit des Kapitalismus und die mal komischen, mal hilflosen Versuche, das Ende der körperlichen Arbeit zu verkraften. Dealende Polizisten und Renter, fröhliche, kleinkriminelle Arbeiter, imbezile Bewährungshelfer, hurende Schulmädchen und Jugend ohne Schallgrenzen skizzieren den Wert von Moral, Gesetz und Redlichkeit im Häutungsprozeß der britischen Gesellschaft. Die Arie „Who cares?“ist hier eine schrill-komische mit einigen inszenatorischen Durchhängern. Doch am Ende siegt die Pietät über die Verkommenheit in einem pathetischen Finale, und das geht voll in Ordnung – ist es doch die Pietät der Lebens- und nicht der Geldgier, und das hat wiederum hohe Moral. Till Briegleb

Abaton, Aladin, Neues Cinema

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