: 41 Sekunden "angemotzt"
■ Umfragen belegen: Verkäufer von Straßenzeitungen stören BVG-Kunden nicht. "motz"-Redakteur Michael May: "Jagd auf Obdachlose ist nicht gerechtfertigt"
In 41 Sekunden hat Bodo sein Sprüchlein aufgesagt. „Schönen guten Tag, ich verkaufe die Obdachlosenzeitung motz. Wir wollen uns nicht länger auf Politiker und Sozialämter verlassen. Ich habe lange genug auf der Straße übernachtet – mir reicht's. Die Zeitung kostet zwei Mark, eine ist für die Redaktion, damit wir die nächste Ausgabe hinkriegen, eine ist für uns, damit wir überleben können. Man ist heute so schnell unten und kommt so schwer wieder hoch.“
Meistens ist Bodo freundlich, wenn er dies sagt. Manchmal ist die U-Bahn schon wieder an der nächsten Station, und der Zeitungsstapel ist nicht kleiner geworden. Dann geht's in den nächsten Wagen. Er sagt sein Sprüchlein auf – wieder in 41 Sekunden.
Inzwischen hat Bodo neun Jahre U-Bahn-Verbot. Neunmal ist er von BVG-Angestellten oder Wachschützern des Geländes verwiesen worden – mit der Begründung, das Verkaufen von Zeitungen auf Bahnhöfen sei nicht erlaubt, und mit der Folge: Zutrittsverbot für neunmal ein Jahr. BVG- Sprecherin Carmen Kirstein verweist auf das Hausrecht, das den Handel jeglicher Erzeugnisse auf Bahnhöfen verbiete, und auf die Betreiber der Bahnhofskioske, „die wollen auch ihre Druckerzeugnisse verkaufen.“ Zwar sei das mit den Obdachlosenzeitungen eine Gratwanderung, gibt Kirstein zu, gehe es hierbei doch um soziale Projekte. Aber: „Die BVG ist nicht für das verantwortlich, was in der Gesellschaft nicht klappt.“
Überraschend an der BVG-Argumentation ist die Tatsache, daß die Begründung, die Fahrgäste würden sich von den Verkäufern der Obdachlosenzeitungen belästigt fühlen, nicht mehr angeführt wird. Die Auswertung der im vergangenen Jahr an die BVG eingereichten Eingaben (insgesamt 9.631) belegt, daß die Kunden mit allem möglichen unzufrieden sind, nur nicht mit den Straßenverkäufern. Die Anzahl der diesbezüglichen Beschwerden sei so gering, daß sie vernachlässigt werden könne, bestätigt Kirstein. Dennoch könnten die Verkäufer nicht geduldet werden, wie übrigens auch nicht die Verkäufer von B.Z. und Tagesspiegel. Der motz-Redakteur Michael May wirft der BVG zwielichtiges Handeln vor. Der Verkauf angestammter Blätter in U- und S-Bahnen werde „wohlwollend toleriert“, dagegen werde auf Verkäufer von Obdachlosenzeitungen immer wieder „Jagd gemacht“. Wie z.B. vor kurzem auf die 21jährige Beatrice. Sie sei unterwegs gewesen, in der U8, von Wachschützern attackiert und aus dem Bahnhof geführt worden – trotz eines gültigen Fahrausweises. „Auch ein Fahrausweis berechtigt nicht zum Zeitungverkaufen“, kontert BVG-Sprecherin Kirstein.
Auch eine Untersuchung des Berliner Fahrgastverbandes kam zu dem Ergebnis: Straßenverkäufer stören die BVG-Kunden nicht. Von den 1996 abgegebenen 800 Beschwerden habe sich keine einzige mit den Obdachlosen befaßt, resümiert Matthias Gibtner. Vielmehr hätten sich die Fahrgäste über Unpünktlichkeit, falsche Durchsagen bei Störungen, nicht ausreichende Beschilderungen und ungünstige Fahrpläne aufgeregt. Im übrigen gibt Gibtner zu bedenken: „Die BVG verfolgt doch auch nicht konsequent die Einhaltung des Rauchverbots auf den Bahnhöfen. Warum schlägt sie ausgerechnet bei den Straßenverkäufern zu?“ Jens Rübsam
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