piwik no script img

Wege des Berührten

Der Dichter als Häuslebauer und Wandersmann: Botho Strauß' Buch „Die Fehler des Kopisten“ – halb Tagebuch, halb Aphorismensammlung  ■ Von Jörg Magenau

Auf einem Hügel in der Uckermark steht ein weißes Haus. Erst eins, dann zwei: Wer jetzt ein Haus baut, der baut eines mehr. Der Dichter Botho Strauß ließ sie errichten: das größere für sich selbst, das kleinere für „die Gäste, die niemals kommen“, aber man ist ja nie sicher. Das Anwesen ist kein simples Gebäude, sondern ein „Ort der Bleibe“, „eine Warte“, „mein Wohnen“. Tapfer stemmt es sich der metaphysischen Unbehaustheit des Menschen entgegen, steht „frei und unbehaglich vor dem Wind, trotzig und ein bißchen verloren“ – fast wie der Dichter selbst.

Hier also lebt er seine unkompromittierbare Abgeschiedenheitsexistenz. Hier tröstet er sich in langen Wanderungen darüber, seit seinem „Bocksgesang“ von 1993 „vom Berühmten zum Berüchtigten“ geworden zu sein. Hier sieht man ihn „sitzen und starren, starren und säumen“ – und warten. Aber worauf? Auf das große, rätselhafte „Zurückgerufenwerden“, wie er formuliert? Oder vielleicht doch bloß auf den Spiegel-Fotografen, der das alles ablichtet, um Bilder des poetischen, wahrhaftigen Dichterdaseins hinaus in die schnöde Welt zu tragen?

Es wäre einfach, sich über Strauß' elitären Bedeutungshuber- Gestus lustig zu machen oder sich von seinem feierlichen Pathos einschüchtern zu lassen, mit dem er jeden Begriff wie einen Pfahl in den Boden der Uckermark rammt: „Das Haus“, „Das Kind“, „Die Mutter“. Jedes Wort will über sich hinaus und beschwört in bleiern gravitätischer Schwere das Absolute. „Die Fehler des Kopisten“, halb Tagebuch, halb Aphorismensammlung, ist eine Elegie des Abschieds und ein Protokoll der Jahreszeiten. In seiner vollkommen humorfreien Sentenzhaftigkeit, in seiner kitschelnden Naturidyllik und schaurigen Schäferromantik bietet das unverschlüsselt autobiographische Buch reichlich Material, sich zu mokieren. Einzelne durchaus scharfsichtige Beobachtungen und Reflexionen stehen zuverlässig neben gnadenlosem Kitsch. Das ist die natürliche Fallhöhe einer Existenz, die sich vom Kleinbürgerlichen zum Aristokratischen reckt, die ihr spießiges „Zurück zur Natur“ als Einsiedelei des Geistes tarnt, dabei aber doch nur die bewährte Trias bürgerlicher Daseinsbewältigung demonstriert: Das Haus ist gebaut, der Baum ist gepflanzt, das Kind ist gezeugt.

Doch, um Strauß zu zitieren: „Die Wege der Berührten sind unbeirrbar“, und so muß man sich auf seine unerbittliche Suche nach Ursprung, Wesen, Eigentlichkeit wenigstens versuchsweise einlassen, wenn man das Buch nicht sofort wieder zuklappen will. Es kann ja nicht anders als raunend und unverständlich zugehen, wenn ein Dichter Sprache als unzureichendes Werkzeug und Worte als bloße Oberflächenphänomene begreift. Strauß gibt sich – ganz ähnlich wie Peter Handke – der paradoxen Herausforderung hin, „das Unaussprechliche“ zu sprechen. „Wer nie im Mond über dem Milchbrodem der Erde stand, träumt in den Grenzen der Zeit“, lautet so ein poetisch im Irgendwo gründelnder Satz. Wer will, der kann sich dazu irgend was denken.

Die Sehnsucht nach religiöser Aufladung der banalen Existenz ist ja ein legitimes menschliches Bedürfnis. Unerträglich wird sie erst – wie bei Strauß – in der Geringschätzung der „Uneingeweihten“, die weniger Neigung verspüren, die Dinge im Metaphysischen zu verankern. Da ist dann von den „Verkommenen“ die Rede, die „auf bösartige Weise unverträumt“ sind. Rationalität, das ist klar, steht der „religiösen Gestimmtheit“ unversöhnlich entgegen. Psychologie macht aus der Seele ein „kontaminiertes Stück Erde“. Die Medien, besonders das Fernsehen, verwandeln die Menschen in höhlengleichnishafte Kaspar-Hauser-Gestalten, die eines Tages aus dem Dunkel ihrer gruftigen Fernsehzimmer hervorkrabbeln, um in irgendwelche Mikrophone zu brabbeln. Und „die Technik“ mit ihren bestimmenden Aktionsfeldern Mikroelektronik und Genetik setzt einen ständigen Zwang zur Anpassung in Gang, eine Revolution ohne Endpunkt. Wehe den Menschen! Wehe der Gesellschaft!

Die Elemente dieser Kritik sind simpel und vorhersehbar, ihre Grundanordnung ist schlicht. Das Ursprüngliche, Authentische, Unverbildete stehen der beklagenswerten Überformung durch Zivilisation, Artifizielles, Menschengemachtes gegenüber. Strauß, der kunstfertige, hochgebildete Dichter, stellt sich auf die Seite der Natur und des übergeschichtlichen Mythos'. Der Intellektuelle verleugnet sich selbst. Er leidet an „Einstweh“, einer Art mythologischem Phantomschmerz. Zukunftsvisionen sind ihm nur mehr ein „Schwächezustand des überinformierten Verstandes“.

Vom dialektischen Denken hatte Strauß sich bereits 1981 in seinem Prosabuch „Paare, Passanten“ zu verabschieden begonnen. „Ohne Dialektik denken wir auf Anhieb dümmer; aber es muß sein: ohne sie“, schrieb er damals. Seither entfaltet er ein Geschichtsverständnis, aus dem alle Fortschrittsgläubigkeit, alle Linearität radikal entfernt sind. Das „Zurück zu“, nach Max Scheler die Wesensform der religiösen Erneuerung, ist auch Strauß' Bewegungsrichtung.

So weit, so bekannt. Das ist der „Bocksgesang“ in einer neuen, weicheren Melodie, das Traktat wiederholt sich im Gewand der Poesie. „Die Fehler des Kopisten“ ist in vier Kapiteln als Durchgang durch ein Jahr komponiert. Das Zyklische gibt den Rhythmus vor, die Unveränderlichkeit der ewigen Wiederkehr. Das Leben in der Natur, die zauberhafte Landschaft der Uckermark mit ihren Wiesen und Sümpfen, Unkenteichen, Kranichen und schnürenden Füchsen ist Ausgangs- und Endpunkt aller Wahrnehmung. Und wenn der Dichter im zweiten Kapitel nach Berlin aufbricht, dann ist das, als ginge es nach Gomorrha.

Botho Strauß wurde in den siebziger Jahren mit seinen Theaterstücken über die Westberliner Kunstschickeria („Trilogie des Wiedersehens“; „Kalldewey Farce“) berühmt. Er war Chronist und bissiger Beobachter der westdeutschen Gesellschaft. Seine Kritik des banalen Geschwätzes war so ätzend, weil er selbst ein Teil dieser Gesellschaft war. Jetzt taucht er in Berlin auf, als käme er von einem anderen Stern. Erwartungsgemäß findet er eine abgrundtief häßliche Stadt vor und eine Demokratie, die langsam, aber sicher verrottet. Das ist das Schlimme an der Demokratie, sagt Strauß: Man kann sie nicht stürzen wie ein totalitäres Regime, man kann nur warten, bis sie organisch verfault.

Die Bocksjäger unter den Strauß-Lesern, rastlos auf der Suche nach unkorrekten „Stellen“, werden in diesem Kapitel am schnellsten fündig werden. Und doch wird man den Eindruck nicht los, Strauß interessiere das alles schon gar nicht mehr. Er ist der Welt schon viel zuweit entrückt, um sich noch ernsthaft mit ihr auseinanderzusetzen. Er „wundert sich“ bloß noch, „ohne Bejahung oder Verneinung“, und gesteht, daß er seine „scheinbar festen Überzeugungen“ nur für „die Anderen“ aufbaut, um sie zu reizen oder zu amüsieren. Enthielt sein „Bocksgesang“ noch ein emphatisches Bekenntnis zur politischen Rechten, so sieht er jetzt im Politischen nirgends mehr eine Aussicht auf Besserung. Die Moral der Öffentlichkeit erscheint ihm als ausgeleiertes Pawlowsches Reiz-Reaktionsmuster, wo „zwischen Links und Rechts nur noch Retourkutschen“ verkehren.

Die einzige klar markierte Trennlinie – und bei ihr hört Strauß' gelangweilte Gelassenheit auf – verläuft zwischen dem Metaphysischen und „allen übrigen bunten Kunstfreuden unserer Tage“. Doch so bestimmt er alles bloß Irdische haßt, so sehr tappt der Dichter im „kosmischen Dunkel“. Trotzdem soll sich all seine Kritik von hier aus legitimieren: als ob es möglich wäre, einen Standpunkt „außerhalb“ zu finden, außerhalb von Geschichte und Gegenwart. Der aber läßt sich nicht beglaubigen, sondern nur noch glauben, und so versickert die Kritik im Bodenlosen, verplätschert als bloße Übellaunigkeit, als Weltschmerz und existentielle Enttäuschung.

Aber halt. Da ist ja noch „das Kind“. Das Kind geht und steht an der Seite des Dichters. Selbstverständlich ist es ein Sohn, und er heißt nicht Hans oder Peter, sondern Diu, Diurno, der tags Gezeugte. Drunter macht Strauß es nicht. Diu ist nicht zu beneiden, muß er doch als eine Art lebendes Exempel für die unverdorbene Ursprünglichkeit herhalten, die mit natürlichem Instinkt das Schöne dem Häßlichen, das Gesunde dem Verdorbenen vorzuziehen weiß. „Mir scheint“, schreibt Strauß über diesen späten Nachfahren von Rousseaus „Emile“, „das weitere Leben, die nüchterne Erziehung, könnte ihn eher vom eingeschlagenen Weg der Selbstkräftigung ableiten...“

Doch gleichzeitig fühlt sich der Dichter als Demiurg und freut sich seiner Macht, „Schöpfer der Erinnerungen“ des Kindes zu sein. Er überschwemmt es gnadenlos mit einer verklärenden, abgöttischen Liebe – komplementäres Element zu seiner Zivilisationsverachtung. Nichts ist schlimmer als der Tag der Einschulung, an dem der Dichter das Kind an die Welt zu verlieren beginnt. Doch indem es sich davon emanzipiert, bloßes Exempel und Verkörperung einer Idee zu sein, wird „das Kind“ zur hoffnungsvollsten Figur des Buches: Indiz dafür, daß es bei Entsagung und Weltferne nicht bleiben kann.

Ein Korrektiv der bloßen Rückwärtsbewegung läßt sich auch aus den titelgebenden Fehlern der Kopisten ableiten. Die Kopisten, alexandrinische Gelehrte oder mittelalterliche Mönche, waren damit beschäftigt, tradierte Schriften abzuschreiben, um sie zu erhalten. Dabei schlichen sich immer wieder kleine, „intelligente Fehler“ ein, die zu überraschenden Interpretationen führen konnten, zu Neuerungen wie bei den genetischen Kopierfehlern in der Evolution oder beim Kopieren von Daten im Computer.

Strauß sieht eine Epoche heraufdämmern, in der die Technik den Menschen im Innersten erfaßt. Die Kreuzung von technischen Speichern und menschlichem Gedächtnis könnte zu einem „entfesselten Erinnern“ führen und „Mutanten der Mnemosyne“ entstehen lassen. „Und wenn das Vergehen selbst verginge?“ fragt Strauß in kreatürlichem Schauer vor einem zukünftigen „Download der Erinnerung“. Nichts fürchtet er so sehr wie die Entstehung eines gen- und informationstechnisch zu Hypersensibilität verfeinerten Menschen, der ihn, den hypersensiblen Dichter, in den Schatten stellen könnte. Nicht auszudenken! Dann wäre alles fein erdachte Leid, alles solide Unglück umsonst gewesen! Dann wäre seine Poesie der Erinnerung ein Kinderspiel. Dann hätte der Mythos ausgespielt.

Strauß hält es deshalb lieber mit den Mönchen und Gelehrten früherer Epochen. Doch auch sie stehen dafür ein, daß aus der Arbeit an der Tradition das Neue erwächst. Im Zufälligen, an den Rändern des Kanonischen, liegt der Keim der Veränderung. Als solch einen Kopisten kann man sich Botho Strauß vorstellen: ein akribischer, mönchischer Fleißarbeiter im Dienste des Bewahrens, der stets das Alte will und doch – vielleicht – das Neue schafft.

Botho Strauß: „Die Fehler des Kopisten“. Hanser Verlag, München 1997, 208 Seiten, 34 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen