: Alarmismus zum Mitmachen
■ Geliebtes Haßfernsehen: „XY – Ungelöst“, der schaurig-schöne Normalfall
Es gruselt so schön: Wenn die Straßenlaternen durchs dunkle Schlafzimmerfenster scheinen. Oder das Türglas zersplittert und eine Hand zur Klinke greift. Oder das feuchte Gras unter den vorsichtigen Schritten leise schmatzt. Dann wird es spannend bei „Aktenzeichen XY – Ungelöst“. Ganz wie im richtigen Krimi.
Und doch ist es bei Eduard Zimmermann noch unheimlicher. Die Spannung geht mehr unter die Haut, das Unbehagen bleibt selbst nach dem letzten Schuß. Weil in dem ZDF-Knüller für Amateurkriminalisten alles wahr ist und echt. Die Wohnzimmer sehen aus wie die von den Nachbarn, und die Darsteller wirken wie wirkliche Opfer und wirkliche Täter. Ganz früher habe ich deshalb nach jeder Sendung noch einmal alle Türen und Fenster kontrolliert. Und mir geschworen, nie mehr hinzuschauen. Aber ich gucke immer wieder. Bis heute. Und die Verbrechen sind immer noch richtige Verbrechen, die Menschen zustoßen. Nicht den Reichen wie bei Derrick oder den Armen und Unterprivilegierten bei Schimanski. Als Opfer sind bei Zimmermann alle gleich.
Dazu kommt – und das macht den Grusel noch viel wohliger –, daß einem seit Jahrzehnten alles ganz vertraut ist in der Sendung: Der Moderator und die Ausstattung, die ungelenken Kommissare und die Herren Nidetzky und Toenz, die vielen Telefone im Hintergrund mit den Namenlosen davor. Jedesmal, wenn einer von denen zum Hörer greift, stockt einem der Atem: Kommt jetzt der entscheidende Tip? Darf ich Zeuge sein bei der Auflösung eines ganz abscheulichen, widerwärtigen, abgrundtief verachtenswerten Verbrechens? Ich habe es noch nie erlebt, obwohl bis zur 277.Sendung im Juli 1995 über 40 Prozent der bis dahin behandelten 2.492 Kriminalfälle gelöst wurden.
Bei der letzten Sendung war ich wieder dabei. Elf Fälle mit allem Drum und Dran, Mord, Bankraub, Betrug. Selbst was mit Sex kam vor, ein schwuler SM-Mord in Bad Iburg. Damit wir uns gerade dabei nicht erschrecken, bereitete Zimmermann diesen Fall besonders sensibel vor: Es gäbe da eine Welt, die für die meisten Zuschauer fremd und unverständlich sei, aber: „Dieses Milieu ist Bestandteil unseres Lebens!“ War das jetzt ein aufklärerischer Durchbruch oder eine besonders infame Diskriminierung? Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn plötzlich – bei der Beschreibung des Homo- Mörders von Bad Iburg: „Schwarzes Haar, dunkle Augen, gebrochen deutsch, könnte aus Südosteuropa kommen“ – fiel es mir auf: Alle gesuchten Täter in der Sendung, deren Namen man kannte oder von denen eine Beschreibung vorlag, waren Ausländer. Sie hießen Vasile und Hekrem, Zeljko und Donald, Owen und George. Sie waren alle dunkel bis schwarz und kamen aus Jamaica, Bosnien, Jugoslawien, Polen. Das konnte kein Zufall sein. Welch sicheres Händchen hatte hier aus der monatlichen Fülle der Grusel- und Greueltaten just diese exotische Auswahl getroffen?
Mir fiel Ulrike Meinhof ein, die bereits 1968 in ihrer Konkret-Kolumne vor Eduard Zimmermann und seinem Produkt gewarnt hatte: „In erster Linie ist die Fernsehunterhaltungssendung ,Aktenzeichen XY – Ungelöst‘ ein großangelegter, phantastischer Massenbetrug.“ Voller Wut sprach sie von den „kleinen und großen Gesetzesbrechern“, die hier zu Sündenböcken gemacht würden: „Sie dürfte nicht zuletzt eine Testsendung sein, vermittels derer feststellbar ist, inwieweit Kriminelle sich als Haßobjekte in Deutschland und Österreich eignen, und inwieweit Deutsche und Österreicher auf diese faschistische Manier mobilisierbar und gleichzeitig kontrollierbar sind.“
Beiläufig, ganz alltäglich werden uns die Verbrechen serviert, die auch uns jederzeit treffen könnten, damit wir gepackt werden bei der Furcht um unser bißchen Besitz und unser bißchen Leben. Schon sind wir gefangen und offen für die Botschaft, daß dunkle Mächte dahinterstecken, dunkel und fremd und ausländisch und gebrochen deutsch. Wenn wir am Morgen nach der Sendung auf die Straße gehen, werden wir in jedes dunkle Gesicht schauen und die Fahndungsfotos wiedererkennen und noch viel mehr. Die Meinhof hatte recht. Elmar Kraushaar
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