: Antisemitismus und Amüsement
Von der psychologischen Plausibilität der Feindbilder: Wie funktionierte nationalsozialistische und stalinistische Propaganda im Kino? Das Goethe-Institut zeigte in Riga ein Programm über „totalitäre Filme im Vergleich“ ■ Von Alexander Musik
Einen Rubel hat die Fahrt mit dem Lift hinauf zum Glockenturm des St.-Petri-Doms in Riga mal gekostet. Die russische Währung auf dem Ticket ist mit Kugelschreiber durchgestrichen und durch Lat ersetzt, die neue Geldeinheit Lettlands, das sich am 21. August 1991 unabhängig erklärt hat. Oben, in 72 Meter Höhe, weht ein eisiger Wind. Der Blick geht weit, über protestantische, katholische, russisch-orthodoxe Kirchen und Baukräne hinweg. Viele großbürgerliche Jugendstilfassaden in der Altstadt werden restauriert, weit mehr bröckeln aber weiter vor sich hin.
Unvermittelt werden die Häuserzeilen von baufälligen, niedrigen Holzhäusern unterbrochen wie in einem Tarkowski-Film. Kein Zufall: Die Russen stellen mit 47,3 Prozent der Bevölkerung die Mehrheit in Riga. Sie sind geduldet, ohne Wahlrecht und staatenlos. Lingua franca ist wieder Lettisch, doch nur 20 Prozent der Russen beherrschen es (umgekehrt sind es zwei Drittel). Trotzdem will kaum einer zurück nach Rußland.
Im Zweiten Weltkrieg war Riga Etappe der Wehrmacht – ein Amüsierbetrieb, mit Bangkok im Vietnamkrieg vergleichbar. In den Kinos liefen deutsche Propaganda- und Durchhaltefilme: „Jud Süß“ (1940), „Kolberg“ (1945), „Ohm Krüger“ (1941) oder „Die große Liebe“ (1942) mit Zarah Leander. Zu Sowjetzeiten nach 1945 liefen grob geschnitzte Propagandafilme aus den Mosfilm-Studios: „Die große Wende“ (1945), „Der Sekretär des Bezirkskomitees“ (1942) oder „Zoja“ (1944).
Was passiert, wenn das gut besuchte Goethe-Institut in Riga solche nazideutschen und sowjetischen Propagandafilme zeigt? Stürmen dann Rigas Skinheads das Kino, um sich an den von Goebbels in Auftrag gegebenen Produktionen zu weiden? Besteht die Gefahr, daß Letten und Russen glauben, Propagandafilme seien wieder en vogue in Deutschland? Die Konferenz „Der totalitäre Film im Vergleich“, die das Goethe-Institut in Riga veranstaltet hat, war nicht öffentlich; sie durfte es auch nicht sein, das mußte Institutsleiter Friedrich Winterscheidt dem Auswärtigen Amt unterschreiben, sonst hätte er die Filme gar nicht erst bekommen.
Im kleinen Kreis also lauschte man den Ausführungen von Naum Klejman, Direktor am Moskauer Filmmuseum, und Rainer Rother, Leiter der Filmabteilung des Deutschen Historischen Museums in Berlin. Was unterscheidet denn nun die Propagandafilme in beiden totalitären Staaten? Die deutschen Filme, so Rother, seien aus der Offensive entstanden, die Sowjets drehten in der Defensive, da stand die Wehrmacht nämlich schon im Land. Zudem thematisierten deutsche Filme – Ausnahme „Hitlerjunge Quex“ – nie die NS-Bewegung selbst; die sowjetischen Filmemacher hatten dagegen gebetsmühlenartig die Revolution zu glorifizieren: „Man soll nicht von früh bis spät in Gesinnung machen“, fand Goebbels. Dem Propagandaminister ging es darum, ergänzte Naum Klejman, die bestehende Ordnung zu zementieren; die Russen sollten dagegen immer einer schöneren Zukunft harren.
Den NS-Film gab es nicht, so Rother weiter. Von den 1.100 zwischen 1933 und 1945 gedrehten Filmen fiel nur ein kleiner Teil in die Rubrik Propaganda; der Rest war Amüsement, etwa die auch im Export erfolgreichen Operettenfilme. Und während man den sowjetischen Produktionen der 40er Jahre die holzschnittartigen Gut-und Böse-Rollenverteilungen so sehr wie das knappe Budget ansieht – Kriegsszenen wurden in verschiedenen Filmen mehrfach verwendet –, investierten die Drehbuchautoren der NS-Filme ebensoviel Energie in die psychologische Plausibilität der Feindbilder wie die Produzenten Geld: 1,9 Millionen Reichsmark kostete Veit Harlans perfide antisemitische „Jud Süß“-Verfilmung; 5,4 Millionen gar Hans Steinhoffs antibritischer „Ohm Krüger“ über den Burenaufstand. Schauwerte mußten bei der Ufa auch die Propagandafilme bieten; einige waren Blockbuster im Dritten Reich.
Eine doppelte Abschottung diagnostizierte Rainer Rother den Sowjetfilmen der 40er Jahre: gegenüber der Realität und dem filmästhetisch bereits Erreichten. Die russische Avantgarde hatte es schließlich schon gegeben; doch für deren Diffamierung hatte Stalin ausreichend Vokabeln: Formalismus, Obskurantismus, Einlullung zum Beispiel.
Mit über tausend Kopien liefen die Filme in Kinos, Kindergärten, Kolchosen, an der Front. Geld einspielen mußten sie nicht; die Zeitungen hatten Lobeshymnen zu veröffentlichen, so Klejman. Immer wieder wurde der Homo sowieticus dargestellt: die Selbstaufgabe zugunsten der Gemeinschaft; die Unterordnung aller Persönlichkeitssphären unter die Interessen und Aufgaben des Staates. Die Helden: die Genossen Generäle, die Partisanin oder die Komsomolzin, etwa „Zoja“ von Lew Arnschtam. Ihre Biographie ist auf die Partei geeicht; später wird sie, als Partisanin in die Hände der Wehrmacht gefallen, zur Märtyrerin. Rußland sei ein weibliches Land, die Maria wichtiger als Christus, sagt Naum Klejman.
In Riga waren von den nazideutschen nur die „hoffähigen“ Filme zu sehen, nicht etwa offen zum Völkermord aufrufende wie „Der ewige Jude“. Die Emotionen der Geladenen sollten auf kleiner Flamme gehalten werden. Die Reaktionen auf das Gesehene wollte man zum Schluß der Konferenz abfragen. Doch da war die russische Seele vor. Statt Fragen an die Experten und konkreter Äußerungen zur deutschen wie sowjetischen Propaganda gab's spontane Gedichtdeklamationen und Stegreifmonologe über die Freiheit und das Leben, die vom Philosophischen ins Metaphysische lappten und auch gern darüber hinaus.
Kann man „Jud Süß“ heute in Riga öffentlich zeigen? Eine junge Zuschauerin wußte es genau: „Wer soll sich dafür interessieren? Wir sehen Filme aus Hollywood!“
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