: Siegerjustiz gegen Staatskriminalität
■ Zu Dietmar Jochums dreibändiger Dokumentation des Politbüroprozesses
Noch in der Vorbemerkung des dritten Bandes seiner bis jetzt dreiteiligen Dokumentation des Politbüroprozesses geht Dietmar Jochum davon aus, daß er sie einer „interessierten Öffentlichkeit“ vorlege. Diese Voraussetzung kann nicht mehr als unstreitig gelten, seit dieser Prozeß für den Enthüllungsjournalismus kaum noch Stoff zu bieten verspricht. Aber dennoch muß dem Herausgeber Zustimmung und Dank gezollt werden. Was er vorlegt, gehört zur Pflichtinformation einer Öffentlichkeit, die sich keineswegs rühmen kann, eine klare Position gegenüber den beiden deutschen Diktaturen dieses Jahrhunderts und ihren Rechtsfolgen gefunden zu haben.
Und man kann hinzufügen, Jochum hat es den Benutzern seiner handlichen, übrigens auch illustrierten Bände leichtgemacht. Alle drei enthalten zuerst die Haupttexte des Prozeßgeschehens; Bd. 1 die Prozeßeröffnung im November 1995, Bd. 2 die Anklageerhebung und die Reaktion hierauf im Januar und Februar 1996; Bd. 3 die Beweisaufnahme vom 4. März bis 23. September 1996. Natürlich sind diese Dokumente nur soweit abgedruckt, wie es zum Verständnis des Prozeßgeschehens nötig ist, ein Verfahren, das schon angesichts der über 1.500seitigen Anklageschrift unvermeidlich war.
An diesen den Prozeßverlauf dokumentierenden Teil schließt sich in jedem der drei Bände ein zweiter, der den Verlauf der öffentlichen Diskussion in Abhandlungen und Interviews wiedergibt. So wird auch dem nicht juristisch gebildeten Publikum eine Orientierungsmöglichkeit über die Hauptfragen des Prozesses gegeben, zumal auch die Angeklagten, ihre Verteidiger und Sympathisanten ausführlich in diesem zweiten Teil zu Wort kommen.
Ihre Position, besonders pointiert von Krenz einerseits und Schabowski andererseits vertreten, kreist immer wieder um die Frage nach der Souveränität der DDR, ihrer Einbindung in den Warschauer Pakt, die Legitimität des Verfahrens, seine Rechtsgrundlage oder einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot und das Vorhandensein eines Schießbefehls. In diesem Zusammenhang sei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß Jochum auf den Seiten 226 bis 229 des zuletzt erschienenen dritten Bandes die Geheime Verschlußsache MfS Nr. 725/73 über eine Beratung am 24. Juli 1973 zwischen MfS, Minister für Nationale Verteidigung, Minister des Inneren und Chef der VP abgedruckt hat, in der Mielke mit der größten Selbstverständlichkeit vom Vorhandensein eines Schießbefehls ausgeht und auch dies von den Verantwortlichen mittlerweile als westliche Propaganda verpönte Wort benutzt.
Auch die Justiz (Jahntz, Schaefgen, Rautenberg), fast alle Verteidiger kommen ebenso zu Wort wie die Rechtswissenschaft (Frowein, Wesel, Hillenkamp, Gropp, Wassermann) und die Politik (u.a. Bahr, Gaus, Däubler-Gmelin, Lummer, Templin, Hilsberg, Meckel, Thierse, Heuer, Wagenknecht).
Wer die Texte wirklich durchgearbeitet hat, wird sich des Eindrucks nicht mehr entschlagen können: Die Position der Angeklagten verfängt sich immer tiefer in dem Widerspruch zwischen der Behauptung, sie hätten nichts anderes getan, als ihre hoheitlichen Aufgaben im Rahmen der Regierung eines souveränen Staates wahrzunehmen und der gleichzeitigen Delegierung der Hauptverantwortung an die Sowjetunion. Als ob Artikel 6 der DDR-Verfassung von 1968/1974 nicht gerade das zum Inhalt gehabt hätte, daß Souveränität der DDR und Bindung an die SU sich wechselseitig bedingten!
Ebenso klar wird an den Texten, daß das Reden von Siegerjustiz die Sprache derer ist, die weiterhin in den Kategorien der deutschen Zweistaatlichkeit und des Kalten Krieges denkend, noch immer nicht verstanden haben, daß die friedliche Revolution des Herbstes 1989 nicht Sieger und Besiegte, sondern die Einheit eines Volkes von Bürgern und Bürgerinnen zum Ziel und Ergebnis hatte, das sich von den Abgrenzungen des Kalten Krieges und seiner Fronten aus eigener Kraft gelöst hatte.
Man darf gespannt sein, wie der demnächst erscheinende vierte Band den Verlauf des Prozesses weiterverfolgen wird, nachdem die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Beschwerde der Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates und die belastenden Aussagen des Generalkommandos Mitte ganz neue Gesichtspunkte für die Rechtsgrundlagen und die Tatbestände des Politbüroverfahrens aufgestellt haben. Wolfgang Ullmann
Dietmar Jochum: „Der Politbüro- Prozeß“. Drei Bände. Band 1, 224 S., Scheunen Verlag Kückenshagen 1996, 24,80 DM; Band 2, 454 S., 29,80 DM; Band 3, 580 S., 35 DM, beide Magnus Verlag, Bahnhofstraße 49, 12305 Berlin
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen