Blühende Schuttkegel

„Visit the Valleys“: In Südwales überwuchert die Natur die Geschichte von Erz, Kohle, Stahl und den harten Lebensbedingungen der Arbeiter. Eine Spurensuche zwischen Grabsteinen  ■ von Laura Göbelsmann

And death shall have no dominion beschwört der walisische Dichter Dylan Thomas die Unsterblichkeit.

Der Friedhof von Llanelly in Südwales wirkt wie das Sinnbild seines Gedichts: ungezähmte Parklandschaft mit Holunderbüsche und riesigen Eiben, üppigen Gräsern und Farnen. Paradiesische Bedingungen für Flora und Fauna. Dieser „Living Churchyard“, ein Projekt des Brecon Beacon Nationalparks und Brecknock Wild Life Trust, bedeutet nichts anderes, als die Natur sich selbst zu überlassen. So vollzieht sich zwischen den verwitterten Grabsteinen der stete Rhythmus von Werden, Wachsen und Vergehen.

Eine trügerische Poesie. Denn einige Grabsteine aus dem letzten Jahrhundert bezeugen noch, wie eng hier Leben und Tod mit der Industriegeschichte der Region verbunden waren. Die Diskrepanz zwischen Geschautem und Geschehenem macht neugierig.

Im Clydach-Tal, zwischen Weißdorn und Schafen, beginnt die Spurensuche. Vom Duft der Blüten umnebelt, glaubt man gern der Legende, daß Shakespeare hier zu seinem „Sommernachtstraum“ inspiriert wurde. Doch zweihundert Jahre später war die Verzauberung vorbei. Kein Elf, keine Wunderblume. Das Drama der industriellen Revolution brach auch über dieses Tal herein.

Wie in einem Amphitheater hat die Natur hier alles bereitgestellt, was zur Herstellung von Eisen benötigt wurde: Erz, Kohle, Kalkstein als Schmelzmittel und die Wasserkraft des Clydach. Eisen für das Britische Empire, für Waffen und Schienen, vor allem aber für Kanonen gegen Napoleon.

Ein Mikrokosmos der über hundert Jahre alten Industriegeschichte. Und die Geschichte vom Aufstieg und Fall der Clydach Iron Works Company. Um 1841 arbeiteten 1.350 Menschen in den Erzminen und Kalksteinbrüchen, in den Kohlegruben und an den Schmelzöfen der Hütten. Magnet für alle, die von der Farmarbeit auf den kargen Böden allein nicht leben konnten.

Stille auch hier. Holunderbüsche, Brombeersträucher und einige Cottages, von denen die meisten zum Verkauf anstehen, das ist alles, was von der einst boomenden Gemeinde Clydach übriggeblieben ist. 1860 kam das Aus. Stahl hatte Eisen überholt und zog in die fünf langen, schmalen Täler im Südwesten, die Dylan Thomas mit einer Hand in einem zu engen Handschuh verglich. Respektvoll „The Valleys“ genannt, waren sie noch bis in unser Jahrhundert industrielle Hochburgen für Kohle und Stahl.

In all dem Grün hat die Phantasie es schwer, sich ein Leben vorzustellen, das synonym war mit endlosen Stunden harter Arbeit.

„8 hours to work

8 hours freedom

8 hours of sleep and

8 shillings a day“

blieb für Jahrzehnte nicht nur ein Wunschtraum der Kumpel. Die Chancen, gesund zu bleiben und alt zu werden, waren gering. Joshua wurde 26 Jahre alt. Ein Arbeitsunfall. Kein frommer Wunsch, kein tröstender Spruch auf seinem Grabstein. Nur der Name der Maschine, die ihn tödlich verletzte. Auch wenn wir nicht wissen, was eine „Cymro Engine“ ist, auf dem verwunschenen Friedhof von Llanelly wird sie zu etwas Schrecklichem.

Unfälle gehörten zu einem Arbeitsalltag, dem Sicherheitsvorschriften fremd waren. „The Dust“, der gefürchtete Staub, war ständiger Begleiter in den Kohlegruben und Steinbrüchen und führte zu einem Tod „schlimmer als der eines Karpfens am Angelhaken“, so der walisische Dichter Duncan Bush. Oder man hatte bad breath, wie Bronchitis und Tuberkulose mit britischen Understatement genannt wurden. So waren lange Arbeitszeit und kurze Lebenszeit komplementär.

Und man begann jung zu arbeiten. 133 Mädchen und Jungen im Alter zwischen acht und dreizehn Jahren arbeiteten für die Clydach Iron Works Company, aber auch Sechsjährige. Keine Besonderheit, wie ein Untersuchungsbericht über Kinderarbeit 1841 feststellen mußte. Zahlen, die Bilder von Dickensscher Düsterkeit hervorrufen. Statt Kindheit, zehn bis zwölf Stunden Arbeit in Dunkelheit und Enge. Kinder als menschliche Zugtiere in Stollen, die für Pferde zu niedrig waren. Sechs- bis Achtjährige, die die Entlüftungstüren bedienen mußten, eine besonders monotone Arbeit.

William Richards: „I been down 3 years, when I first went down, I could not keep my eyes open. I don't fall asleep now. I smokes my pipe. I smokes half a quarter a week.“ – Das sagt kein alter Mann, sondern ein siebeneinhalbjähriges Kind. Schrecken, die nicht überall auf der Welt gebannt sind.

Auch auf dem Friedhof von Llangattock scheinen die Grenzen der Zeit aufgehoben. In Eisen gebettet, mit uralten Eichen, Blutbuchen und Buchsbäumen, ein Gemälde in subtilen Grünabstufungen. Jenseits von Cholera- und Typhusepidemien in der Mitte des letzten Jahrhunderts, deren Opfer vor allem Säuglinge und Kinder waren, wie viele Gräber bezeugen. Im Hintergrund das Llangattock Escarpment. Eine markante Kalksteinbarriere über den heckengesäumten Weiden des Usk-Tals. Während der industriellen Revolution ein riesiger Steinbruch. Jetzt sind dort wieder die Schafe unter sich.

Auf dem Weg in die „Valleys“. Einsamkeit auf den Hochplateaus von Llangattock und Llangynidr an der Grenze des Nationalparks. Eine Mondlandschaft mit kraterähnlichen Vertiefungen, Höhlen und verlassenen Steinbrüchen. Hier sind Gedanken an Tod und Vergänglichkeit gegenwärtiger als im Grund eines walisischen Dorffriedhofs.

Um Blaenavon und Nantyglo die Landschaft des einstigen Tagebaus. Wie ein Spiegelbild über den Erdterrassen und Schlackebergen die dunklen Wolkenformationen. Unbelebt, urzeitlich scheint es. Aber dies ist eine in höchstem Maße bearbeitete, geschundene Natur. Allein für eine Tonne Eisen mußte das Dreifache an Eisenerz abgebaut werden.

Herrscher von Nantyglo war der legendäre Eisenbaron Crawshay Bailey. Die einst weltweit bekannte Nantyglo Iron Works Company gibt es nicht mehr. Geblieben sind die Roundhouses, Befestigungstürme, die sich Bailey aus Angst vor Aufständen seiner Arbeiter bauen ließ. Denn die Rezession in der Eisenindustrie nach den napoleonischen Kriegen, und die skandalösen Arbeitsbedingungen führten immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen.

Auf dem Friedhof von Llanfoist zeigen sich nochmal die Machtverhältnisse: unübersehbar der pompöse Obelisk über seiner Grabstätte, alle anderen Gräber überragend.

In der Nähe der einstigen Eisenhütte wohnte eine alte Frau, von meterhohen, grünen Gebilden umgeben. Alte Schlacke, keine Gefahr mehr, von ihr vertrieben zu werden wie die Helden in Richard Llewellyns Bestseller „So grün war mein Tal“, oder darunter begraben zu werden wie die Kinder von Aberfan.

Wie überall in den „Valleys“ ist Aberfan von dunklen Terrassen begrenzt, an denen Häuserreihen kleben, vom engen Tal hinaufgeschoben. Über dem Tal der Friedhof. Grab um Grab hinter hellen Bögen, die sich berühren wie die Hände von Kindern beim Ringelreihen – so wie einige auf dem Schulhof unter den Schlammassen gefunden worden waren. Sie starben am 21. Oktober 1966, als eine Abraumhalde nach tagelangem Regen den Merthyr Hill herabrutschte und 18 Häuser und die Pant Glass School unter sich begrub. 141 Kinder zwischen sieben und zehn Jahren, 141 Namen auf einem schwarzen Kreuz im Gras. „It only takes a little space to write, how much we loved you, but it will take to the end of time to forget the day we lost you“, schrieben die Eltern ihrem kleinen John aufs Grab.

Hier finden Fragen keine Ruhe, kommen alle Einsichten zu spät. Die Grabengel stehen stumm, den Gräbern den Rücken zugekehrt mit gefalteten Händen und Blick auf das ehemalige Zechengelände. Im Tal sind noch Spuren der Kohle zu sehen. Kurz nach der Katastrophe schloß die Zeche und versetzte der Gemeinde einen weiteren schweren Schlag.

Um hier leben zu können, braucht es eine „Community“, die fest zusammenhält. Aber unter dem Druck der Arbeitslosigkeit zerfällt diese so wichtige Gemeinschaft immer mehr und mit ihr eine viele Generationen überdauernde Lebensform. Ein alter Mann gesellt sich zu uns: „Zeche weg, Arbeit weg, die Jungen müssen es woanders versuchen.“ Die alte, traurige Geschichte von Pontypool bis Tonypandy. Aberfan ist der tragische Epilog auf den Niedergang einer ganzen Region.

„Visit the Valleys“, wünscht sich das Waliser Fremdenverkehrsamt, und für einige mag es Geld und Arbeit in die Region bringen. Es sieht so aus, als ob schwarze Flüsse und Schlackeberge langsam beginnen, der Vergangenheit anzugehören. Gegen die Hinterlassenschaft von Kohle und Stahl kämpft seit Jahren das Sanierungsprojekt „Operation Eyesore“. Die Verwüstung war zum „Dorn im Auge“ geworden. Noch ist auf das Inselgrün Verlaß, sprießt es wieder zart auf den abgetragenen Schuttkegeln. Wird man sich eines Tages die Augen reiben, und alles war ein Spuk?

Wieder am Ausgangspunkt. Im Clydach-Tal liegt hoch über den Ruinen der Eisenhütte ein grüner Erdwall mit dem geheimnisvoll klingenden Namen Twyn y Dinas. Hier soll in der Eisenzeit eine Befestigungsanlage gewesen sein. Ironisches Ausrufezeichen hinter dem Auf und Ab der Geschichte.

Information: Britische Zentrale für Fremdenverkehr, Taunusstr. 52, 60329 Frankfurt/Main, Telefon: 069-238 070; Wales Tourist Board, South Wales Regional Office, The King's Head, Bridge Street, Llandello SA19 6BB

Literatur: Peter Sager. „Wales“. DuMont-Verlag. Für die industriegeschichtlichen Erkundungen gibt es englischsprachiges Informationsmaterial und Broschüren