: Wem dient die Reform?
Das Gesundheitswesen ist krank. Überfällige Veränderungen scheitern an Geldgier und der selbstgerechten Konkurrenz um Pfründe ■ Ein Kommentar von Ellis Huber
Ein Gesundheitsreformgesetz jagt das nächste. Heilsame Konzepte fehlen, die Probleme spitzen sich zu. Individuelle Geldgier und gruppenegoistische Selbstherrlichkeit zerstören das soziale Bindegewebe. Das Gesundheitswesen leidet selbst unter der allgemeinen Krankheit.
Die Angst nimmt zu, und Angst macht krank. Angst vor fehlender Lebensperspektive, gesellschaftlicher Ausgrenzung, Arbeitsplatzverlust oder individueller Hilflosigkeit. Die Körper sprechen, wenn die Seele schmerzt und der soziale Druck zunimmt. Gefühle verursachen nämlich Schmerzen, Schlaflosigkeit, Herzrasen, Luftnot, Bluthochdruck oder Ohrensausen. Die Medizin aber verdient ihr Geld mit Operationen, Tabletten oder Computertomographen. An helfenden Händen, bei der Krankenpflege und beim ärztlichen Gespräch wird gespart. Der heilkundige Arzt ist zum geschäftstüchtigen Kleinunternehmer geworden, das lukrative Geschäft ersetzt das tröstende Wort.
Die herrschende Gesundheitspolitik bedient mit ihrem Aktionismus wirtschaftliche Interessen. Sie schützt die Profitraten der Pharmamultis, begünstigt die Ausbeutung der Kranken und das Geschäft mit der Krankheit. Die Politiker nennen dies Gesundheitsreform. In Wirklichkeit ist es ihr „Valium für das Volk“.
Die Gesundheitsversorgung in Deutschland zerbricht, und die Bundesregierung greift mit ihren Gesetzen den Kranken, Schwachen und Armen noch tiefer in die Tasche, um es den Profiteuren am gegenwärtigen Zustand zu geben. Solche Reformen aus Bonn dienen nicht dem Gemeinwesen. Sie bedienen die Aktienbesitzer der Medizinindustrie und die Gaukler der Biotechnologie.
High-Tech-Medizin, Molekularbiologie und Pharmakotherapie können aber auch der Heilkunst dienen, den Menschen individuell und kollektiv nutzen, sie können Gebrechen überwinden und Krankheiten bewältigen helfen. Dafür braucht es eine andere Moral. Gesundheitspolitik muß nicht das soziale Gewissen verlieren, und Gesundheitsreformen dürfen durchaus das Gesundheitswesen sanieren.
Es geht also um eine neue gesellschaftspolitische Orientierung, um eine Medizin, die mehr sozialen Gewinn statt individueller Profite anstrebt. Fortschritt im Menschlichen ist die Aufgabe moderner Heilkunst. Die Informationsgesellschaft braucht eine gute psychosoziale Gesundheit, um die produktiven und kreativen Potentiale des Menschen optimal freizusetzen und die gemeinsame Leistungskraft zu entfalten. In der Informationsgesellschaft wird soziale Gesundheit zu einem Produktivfaktor für wirtschaftliche Erfolge. Sie ist Voraussetzung, nicht Abfallprodukt des Standortes Deutschland.
Wie können wir optimale Gesundheit mit minimalem Mittelaufwand erreichen? Nun: Das soziale Gesundheitssystem wirkt wie ein gesellschaftliches Immunsystem zur Abwehr der Krankheitsgefahren. Praxisorganellen, Krankenhauszellen und staatliche Organe oder öffentliche Körperschaften müssen koordiniert, rücksichtsvoll und im Bewußtsein der gemeinsamen Aufgabe wie Leistung zusammenwirken. Sie sind jeweils Teil in einem sozialen Netzwerk, das individuelles Wohl und allgemeines Wohlbefinden miteinander verknüpft.
Das heutige Gesundheitssystem gleicht demgegenüber einer Krebszell-Ökonomie. Rücksichtsloser Eigennutz bestimmt das Handeln. Aggressiver Egoismus wird belohnt. Für einen Arzt oder Krankenhausträger ist heute betriebswirtschaftlich lukrativ, was der Ökonomie des Ganzen sichtlich schadet. Es sind die Finanzierungsweisen, die solch bösartige Krebswirtschaft täglich anheizen. Falsche ökonomische Anreize erzwingen die Jagd auf möglichst viele Abrechnungspunkte oder gewinnbringende Versicherungsrisiken. Indikationsmacht, die Seite also, die Medizinbedarf bestimmt und anordnet, und Finanzierungspflicht, die Seite, die Ressourcenverantwortung trägt, gehören zusammen. Ärzteschaft, Krankenkassen und Politik müssen sich endlich zu einem gemeinsamen Management der Gesundheitsversorgung durchringen, ihre selbstgerechten Pfründekonkurrenzen überwinden und sich gemeinsam der sozialen Aufgabe widmen.
Die Gesundheitsreform ist also ein Gemeinschaftswerk von Krankenkassen, Ärzteschaft und Politik. Die Menschen sind ihr Maß. Die heutigen monetären Interessenkonflikte auf dem Rücken der Kranken und Notleidenden helfen nicht weiter. Die Ärztinnen und Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger, die wirklich sorgenden und heilenden Kräfte im Gesundheitswesen, sind längst bereit, ihre mitmenschlichen Energien über allen Eigennutz zu stellen und dem Gemeinwesen zu dienen: Optimale Gesundheit so preiswert wie möglich zu schaffen.
Helfer und Patienten an der Basis wollen eine echte Gesundheitsreform. Die Gesundheitspolitik muß diese Chance ergreifen. Sonst könnte ein Aufstand der chronisch Kranken und eine aus christlicher Nächstenliebe geborene Wut die herrschenden Politiker zum Teufel schicken. Die Zeit ist reif für eine grundlegende Wende!
Der Autor ist Präsident der Ärztekammer Berlin
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