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Sirenen und mährische Poeten

Im tschechischen Südmähren kommt der Frühling mit der Fiedel daher. Geschichte, Landschaft und Poesie vom Pollauer Felsen aus betrachtet  ■ Von Balduin Winter

Einst lag Böhmen am Meer, und Mähren, zumindest sein südlicher Teil, lag dem Meer zugrunde, nur die Pavlovské vrchy (Pollauer Berge), granitene Inseln, ragten heraus. Einst war der Bergzug der Českomoravská vrchovina (Böhmisch- Mährischer Höhenrücken), auf dem die Grenze zwischen beiden Ländern verläuft, der Klippensaum dieses Meeres. Meeresränder und Inseln waren bewohnt von den Metaxytheria krahuletzi, prosaisch als Meerkühe bezeichnet, poetisch als Sirenen, berühmt ob ihrer leidenschaftlichen Gesänge, weitläufig verwandt mit den Rüsseltieren, den ebenfalls musikalisch begabten Mastodonten. Es war Untermiozän, in dieser Region auch Eggenburgien genannt, 22 Millionen Jahre her, und vielleicht finden sich hier die Anfänge des mährischen Volksliedes.

Später wich das Meer und mit ihm seine singenden Bewohner, deren Funde im Krahuletz-Museum in Eggenburg ausgestellt sind. Später wölbten sich Gletscher über den verlandeten Meeresboden und zogen wieder ab. Und irgendwann schwemmte es die ersten Menschensippen um die Pollauer Klippe, eines der ältesten europäischen Siedlungsgebiete, Neandertaler, Cromagnon-Menschen, Mammutjäger. Sippschaften aus allen Windrichtungen siedelten im Schutze des Felsens, wanderten weiter oder vermischten sich mit Neuankömmlingen, Donauleute, Kelten, Thraker, Ilyrer, Boier, Markomannen, Quaden, Langobarden, Lugier, Hermunduren, Semnonen, Mährer; Magyaren fielen ein, auf der Pausramer Steppe lagerten Tataren, und das Minarett hinter dem Lednicer Schloß erinnert an die Türken. Und jene, die sich hier niederließen, pflanzten nicht nur ihr Getreide an, sondern versenkten auch das Saatgut ihrer Lieder in die fruchtbare Erde. Deshalb ist Südmähren jener Landstrich, wo die Frühlinge mit der Fiedel unter dem Arm daherkommen, wo Winde mit Namen Jaromir Polka pfeifen, wo Leuchtkäfer nächtens aus Feuersteinen Gedichte schlagen.

Bei klarem Wetter ist der Pollauer Felsen über der Thaya Ebene südlich von Brno (Brünn) ein Blickinsland, von dem aus ganz Südmähren überschaubar ist. Von hier aus eröffnen sich auch die literarischen Himmelsrichtungen. Im Westen, auf einer schroffen Klippe über der Thayaschlucht bei Znojmo/Znaim, liegt Popice, Geburtsort von Carl Postl, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den USA als Charles Sealsfield berühmt wird, ein glühender Gegner des Absolutismus, der vor der Habsburgermonarchie flüchten muß, weil ihn der Polizeiapparat Metternichs verfolgt; ein freiheitsliebender Aufklärer, der die Fürstentyrannei haßt und im Westen sein demokratisches Ideal sieht.

Ein paar Kilometer weiter, zwischen Gurken und Wein südlich des mäandernden Stausees von Vranov, erreicht man das Dorf Šafov/Schaffa. Hier wird 1889 Ludwig Winder geboren, Sohn eines jüdischen Lehrers und Prototyp des in den Gewaltstürmen unseres Jahrhunderts untergegangenen deutschmährischen jüdischen Intellektuellen. Ein Unruhiger, Fragender, den die journalistische Lehrzeit durch die halbe Monarchie führt, bis er von Max Brod als Nachfolger für den verstorbenen Franz Kafka in den „Prager Kreis“ berufen wird. In seinen Romanen entwirft er zwei beklemmende Hauptfiguren der autoritären gesellschaftlichen Umbrüche: der Tyrann und der Erfüllungsgehilfe, der Brandstifter und der Handlanger, der kalte Virtuose auf der Klaviatur der Macht und die Kammerdienerkreatur, die das Funktionieren von Vernichtungslagern möglich macht.

Nordwestlich der Pollauer Klippe wölbt sich die Ebene allmählich zu den Hügeln der Böhmisch-Mährischen Höhe auf, eine verträumte Gegend, wo der Himmel noch vor Milch glitzert und jeder seine Heimat duzt. Dort liegt Tasov, Geburts- und Schaffensort des Erzpriesters Jakub Demi (1878–1961), ein Dorf „am Grund zweier Hänge, wie der Körper einer Möwe zwischen den beiden Flügeln“. Doch hinter der Idylle lotet Demi die unsichtbaren Mauern und Abgründe aus, die trügerische Oberfläche kippt in den Wahnsinn Kubinscher Bilder. Über 130 Bücher umfaßt Demis schriftstellerische Obsession, der als Priester scheitert, um den Sprung auf das „Trapez der Moderne“ zu wagen. Ein kompromißloser Eigenbrötler, fern aller literarischen Schulen und Moden, entwirft einen tropischen Park voller Traumwucherungen, ein Werk, das zum Kristallisationspunkt der modernen tschechischen Literatur wird: Alle, ob ein Šalda, ein Holan, ein Seifert, ein Nezval, alle bewundern die Sprengkraft, die Sprachvirtuosität dieses galligen Außenseiters, der schon Surrealist ist, bevor es den Surrealismus gibt. Geboren in diesen Hügelschwingen ist auch Vitezslav Nezval, den es als Zwangzigjährigen nach Prag zieht, um der tschechischen Literatur ein Villon, Musset, Baudelaire, Rimbaud und Apollinaire zu werden. Avanciert zum Wortführer des Prager Surrealismus, stürzt er nach der Machtübernahme der Kommunisten zum beamteten Phrasendrescher der Parteiliteraten ab.

Am Fuß der Pollauer Felsenhügel erstreckt sich der Flußstau der Thaya, ein flacher See, aus dem eine halb überflutete Kirche und schwarze, nackte Baumgerippe ragen. Im Ellbogen des Flusses war 25 Jahrtausende lang der Welt älteste Keramik verborgen, die Venus von Véstonice. Sie hat ein Exil im Mährischen Museum am Krautmarkt in Brno/Brünn gefunden, während der See aufgrund seiner abwässerintensiven Zuflüsse zur Kloake verkommen ist. Vor allem die Großstadt Brno/Brünn verleidet den Kormoranen das Fischen. Das Zentrum Südmährens liegt etwa 20 Kilometer nördlich, immer umgeben von seinem gelbbraunen industriellen Heiligenschein aus Ruß und Schwefel.

Einige der ganz Großen der tschechischen Literatur sind hier geboren oder beheimatet. Ob sie ihr Lebtag lang hier geblieben sind wie Jan Skácel, ob sie von den politischen Gezeiten in die Welt hinausgespült worden sind wie Milan Kundera oder Vera Linhartová – ihren so unterschiedlichen Werken ist etwas gemeinsam: das Rebellische, Oppositionelle, der Widerstand gegen den Versuch, die Wahrheit in den Sklavendienst der realsozialistischen Ideologie zu zwingen. Der Preis, den sie dafür zahlen mußten, war hoch. Sie wurden gesellschaftlich geächtet, mit jahrelangem Schreibverbot belegt, von der Staatspolizei bespitzelt, für politische Opposition abgeurteilt und ins Gefängnis geworfen.

Auch durch Bohumil Hrabals listige Schwejkiaden mit ihrem zwischen Bauernschläue und absurdem Witz oszillierenden Humor fühlten sich die Parteizeloten oft genug verunsichert. Denn wie sollte man, fragte einmal ein Parteifunktionär in einer Brünner Zeitung, wie sollte man all diese widerspenstigen Charaktere zähmen, die dieser Dichterling in seinen Büchern so lebendig werden läßt, als gäbe es sie wirklich?

Einen gibt es, der hat Südmähren ins Weltliterarische übersetzt: der Poet Jan Skácel (1922–1989). Er weiß soviel über das Land, er weiß, daß es Winde mit Namen Jaromir gibt; er weiß, daß in Brünn die Sirenen einen dunklen Ton heulen; daß Kindertage aus Johannisbeeren sind; daß der Fluß nächtens Verse zum Fluchen benötigt, wenn er über die Steine stolpert. Und oft tastet er sich am Faden zurück zur Kindheit, in der die Wahrheit noch „ein unaufgeplatztes Ei“ ist: Noch heute ist Südmähren ein Land der Sirenen, noch in den unscheinbarsten Winkeln des Landes stößt man auf ihre Dichtungen und Lieder. Und man erzählt sich, daß einem Seltsames widerfahren kann: Wer beim Wandern durch sommerliche Mohnfelder an die fruchtschweren Kapseln stößt, soll sich nicht wundern, wenn aus ihnen statt Mohnkörnern Verse purzeln.

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