: Wehner, ein Fall für die Psychohistorie
Trieb der SPD-Fraktionschef Herbert Wehner ein doppeltes Spiel und verriet Geheimnisse an die SED? Das behaupten zumindest DDR-Spionagechef Markus Wolf und der „Stern“ ■ Aus Berlin Christian Semler
„Verrat auf höchster Ebene“ titelt der Stern dieser Woche eine Geschichte, in der nacherzählt wird, was der ehemalige DDR- Spionagechef Markus Wolf in seinen jetzt erscheinenden Memoiren über die Beziehungen des langjährigen SPD-Fraktionschefs Herbert Wehner zum Ministerium für Staatssicherheit der DDR mitzuteilen hat. Folgt man der Beweisführung des Artikels, so erscheint „Onkel“ Wehner als Fall für die Psychohistorie: Eine moderne Version von Dr. Jekyll und Mr. Hyde.
Denn schon kurze Zeit nachdem Wehner seine Abrechnung mit dem Stalinismus zu Papier gebracht hatte, soll er die SED über einen IM darüber informiert haben, „daß er nicht der Renegat und Verräter war, für den wir (die deutsche kommunistische Parteiführung C.S.) ihn hielten“. Vier Jahre später, zur Zeit der Niederschlagung des Ungarnaufstands im November 1956, soll Wehner Wolf zufolge die Stasi alarmiert haben: „Er warnte vor möglichen Unruhen und riet uns, öffentliche Proteste in Grenznähe unter allen Umständen zu verhindern.“ Auch über andere Emissäre soll Wehner den SED- Leuten seine Treue zum Marxismus-Leninismus übermittelt haben. Zeitgleich setzte er in der SPD die endgültige Absetzbewegung vom Marximus und die „Wende“ hin zu Nato und Bundeswehr durch. Undurchschaubare Strategie oder Persönlichkeitsspaltung?
Gegen die frühen Kontakte zwischen Stasi und Wehner in der vom Stern präsentierten Form spricht vor allem, daß Wehner eines der kapitalen Haßobjekte der SED zur Ulbricht-Zeit war und daß gegen ihn in den späten 60er Jahren ein umfängliches Dossier ausgearbeitet wurde – dies mit dem Ziel, ihn im Westen zu diskreditieren. Einerseits Agent, andererseits Hauptfeind? Eine zu komplizierte Konstellation, selbst für die Anstrengungen Mischa Wolfs.
Bekanntlich wurde die Wehner- Kampagne abgeblasen, und nach der Inthronisation Erich Honeckers entwickelte sich eine rasch heißer werdende Zuneigung zwischen dem SED-Generalsekretär und seinem Mentor aus den frühen 30er Jahren. In dieser Phase wurde der notorische DDR- Rechtsanwalt Wolfgang Vogel zum Postillon d'amour zwischen Wehner und Honecker. Vogels Treffprotokolle redigierte Erich Mielke persönlich und übersandte sie der „Nr.1“ direkt.
Diese Protokolle scheinen in der Tat brisant zu sein. Wehner soll, dem Stern zufolge, die DDR- Seite auf Verhandlungen mit der Bundesrepublik vorbereitet haben, Ost-Berlin über Beratungen der SPD-Führung unterrichtet, gegen Willy Brandts Ostpolitik intrigiert, vor Helmut Schmidt gewarnt und Angst vor einem Angriffskrieg der Nato geschürt haben. Diese Vorwürfe werden im Stern nicht näher substantiiert. Mit am übelsten nehmen sich die Berichte über Wehners Empfehlungen an die DDR-Seite aus, wie mit der polnischen Gewerkschaft Solidarność zu verfahren sei. Hier finden sich im Stern wörtliche Zitate aus den Vogel-Berichten. „Es geht nicht ohne innere Gewalt, leider.“ „Je eher, desto besser.“ Das mag manchen der regierenden Sozialdemokraten, die in der Solidarność hauptsächlich eine Gefahr für den Entspannungsprozeß sahen, aus dem Herzen gesprochen worden sein. Aber vorhergehendes Einverständnis mit dem Kriegszustand in Polen vom 13. Dezember 1981?
Sollte es tatsächlich zutreffen, daß Wehner gegenüber Vogel Verhandlungsdispositionen der Bundesregierung verriet, so hätte der Stern mit seinem Aufmacher so Unrecht nicht. Das Problem besteht nur darin, daß die Vogel-Protokolle, die einst in Erich Mielkes Panzerschrank gelagert haben sollen, gegenwärtig nicht einsehbar sind. Liegen sie, bislang unbeachtet, in der Gauck-Behörde? Unwahrscheinlich – nach der Wehner-Kampagne des Jahres 1994, ausgelöst durch Brigitte Seelbacher-Brandt, die „schrecklche Witwe“. Oder setzen sie Staub bei einer der Staatsanwaltschaften an, die mit dem „Mielke-Komplex“ befaßt waren? Wahrscheinlich hat Markus Wolf, der Umsichtige, schon Kopien der Treffberichte angefertigt, als er (bis 1986) noch im Amt war. Werfen die Enthüllungen Wolfs, ihre Richtigkeit vorausgesetzt, ein neues Licht auf die „Ostpolitik“ und auf die Person des allseits gefürchteten (und manchmal auch geliebten) „Onkels“? Als Egon Bahr zum Chefunterhändler Bonns in Richtung Osten berufen wurde, war Wehners „innerdeutsche“ Rolle eigentlich ausgespielt. Von der Bahrschen, schließlich erfolgreichen Strategie, „den Schlüssel zur deutschen Frage in Moskau zu suchen“, hielt der Alte nichts. Er setzte auf langfristige Kooperation zwischen den beiden deutschen Staaten, speziell zwischen den beiden Teilen der deutschen Arbeiterbewegung, eine Strategie, die er nicht einmal in Umrissen öffentlich vertrat und an deren Realitsgehalt man zweifeln muß. Der direkte Kontakt Wehners zu Honecker erwies sich als hilfreich in humanitären Fragen, die Brandt-Bahrsche Ostpolitik hat er nicht geprägt.
Nach Wolfs Enthüllungen wären dem Porträt Wehners allerdings einige kräftige Pinselstriche hinzuzufügen. Bekannt war bis jetzt, daß er zu Einzelaktionen neigte, daß er alles und jedes manipulieren wollte. Man kennt auch seine Verachtung führender SPD- Genossen. Aber daß seine Loyalität derart gespalten war, daß er sogar, je älter er wurde, den Idealen seiner frühen Jahre wieder näherrückte, daß er profunder Kritiker des Realsozialismus und Verteidiger seiner deutschen Ausgeburt in einem gewesen sein sollte, das wäre in der Tat etwas gänzlich Neues.
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