: Zehn Tage lang versuchen ehemalige Mitglieder von RAF, Roten Brigaden und anderen Gruppen in einer Veranstaltungsreihe in Zürich die Geschichte der bewaffneten Kämpfe in Europa aufzuarbeiten – ihre Geschichte. Sie analysieren die Niederlagen und bleiben weitgehend sprachlos, wenn es um Lehren aus ihren Erfahrungen geht Von Wolfgang Gast
Fruchtloser Frontalunterricht
Mit dem Wodka in der Hand ist leicht spotten: „Der Kampf geht weiter, jetzt auf Seminarebene“, ulkt ein Mittdreißiger im Vorraum der Aktionshalle in der Züricher Roten Fabrik an der Theke. Zwei Gläse hat er schon gekippt, und auch den dritten Wodka „brauche ich jetzt. Die sollen endlich mal sagen, was sie heute wollen. Nicht immer nur, was sie Tolles gemacht haben.“ Nach und nach hat sich der mit Grafitti vollgesprühte Raum gefüllt. Nach vier Stunden Podiumsdiskussion über die unterschiedlichen Konzepte des bewaffneten Kampfes in Deutschland und Italien zieht es immer mehr aus der schwarzverhüllten Halle an den Tresen. Andere gehen gleich zur Haltestelle, die letzte Straßenbahn fährt in Kürze um Mitternacht in Richtung Innenstadt. „Völlig daneben“, echauffiert sich eine, so könne man doch nicht linke Inhalte vermitteln – so wie die da auf dem Podium sitzen, neun Männer und eine Frau, Frontalunterricht gegenüber den rund 300 BesucherInnen.
Seit Ende letzter Woche treffen die Mitglieder der verschiedenen bewaffneten Gruppen aus Deutschland und Italien in der Roten Fabrik in verschiedenen Besetzungen zur „authentischen“ Geschichtsaufarbeitung zusammen. „Zwischenberichte“ heißt der Titel der zehntägigen Veranstaltungsreihe, Berichte über Revolte, Militanz und Revolution. Die Veranstaltungen sind gut besucht, das Interesse groß. So lösten mehr als 700 BesucherInnen aller Altersgruppen am vergangenen Wochenende ein Billett, um von den früheren RAF-Mitgliedern Roland Mayer, Knut Folkerts, Karl- Heinz Dellwo und den ehemaligen 2.-Juni-Aktivisten Gabriele Rollnik und Till Meyer zu erfahren, was sie in die militante Opposition getrieben hat, und welche Konsequenzen sie aus ihren Erfahrungen heute ziehen.
Zum Auftakt der Reihe wurde über die Geschichte der militanten Bewegungen in der Schweiz gesprochen. Die Veranstaltung wurde verrissen, zum Beispiel in der NZZ, die von einer „trostlosen Plauderei alternder Revoluzzer“ schrieb. Nicht wenige der Besucher stimmten da mit der bürgerlichen Zeitung überein, doch heute ist es anders. Dellwo, Mayer und Folkerts sitzen an diesem Abend zusammen mit ihrem früheren RAF-Gefährten Lutz Taufer erneut auf dem Podium. Sie diskutieren mit den italienischen GenossInnen aus den Roten Brigaden über die unterschiedlichen Ausgangspunkte ihrer bewaffneten Politik. Alle zusammen haben mehr als ein Jahrhundert Knast auf den Buckeln.
Schnell werden die Unterschiede beider Länder offengelegt: In Italien fußte der Widerstand auf einer Tradition, die ihren Ursprung im Kampf gegen den italienischen Faschismus hatte. Zudem waren die Militanten Anfang der 70er Jahre in der Industriearbeiterschaft fest verwurzelt – und im Vergleich zur Bundesrepublik war bewaffnete Politik im Süden Europas ein Massenphänomen. Zahlen belegen das. 4.000 bis 5.000 Militante wanderten im Laufe der Jahre in den Knast, 1.500 davon gehörten zu den Roten Brigaden (BR). „Wir haben gegen den Kapitalismus agitiert und mit der Arbeiterklasse kommuniziert“, sagt Tonino Paroli, ein Gründungsmitglied der BR.
Im Gegensatz zur RAF, die sich in den internationalen Kontext einer weltweiten antiimperialistischen Bewegung gestellt hatte, setzten die Genossen in Italien auf die Idee einer „territorialen Gegenmacht“. Das sagt auch Roberto Silvi, dessen Gruppe „Bewaffnete Proletarier für den Kommunismus“ hieß. Der bewaffnete Kampf war für ihn in diesem Konzept der Gegenmacht ein „taktisches Element“.
Um die 480 bewaffneten Gruppen hat es in Italien gegeben. Über alle Unterschiede hinweg habe die Gruppe die Vorstellung von einer wirklichen „roten Macht“ geeint, sagt Ada Negroni, deren „Colonna Walter Alasia“, eine Abspaltung der Roten Brigaden, beispielsweise einen leitenden Ingenieur beim Autohersteller Alfa Romeo entführt hat und damit die Rücknahme bereits ausgesprochener Kündigungen in der Fabrik erzwang. Doch der Traum ist ausgeträumt. Das „Konzept der Machtübernahme“ sei nur eine „große Metapher“ gewesen, sagt heute Tonino Paroli.
Ganz anders war die Situation in Deutschland. Im Muff der 60er Jahre sei „gar nichts anderes geblieben, als zu revoltieren“, resümiert der Ex-RAFler Lutz Taufer. Radikalisiert durch die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967, habe die Linke über Militanz und bewaffneten Kampf nachgedacht. Dazu sei die Wahrnehmung gekommen, „den Faschismus im Nacken und den Vietcong vor uns zu haben“.
Viel ist von Aufbruch, von den Anfängen und den unterschiedlichen Ansätzen der Kämpfe die Rede. Die Praxis des bewaffneten Kampfes wird ausgespart, schließlich über dessen Niederlage diskutiert – auf seltsam unbeteiligte Manier. BR-Mitglied Fabrizio Nizzi sieht den Grund für den Niedergang in dem „fehlenden Konzept einer Machtübernahme“. Ab einem gewissen Zeitpunkt habe man nur noch „Repression und tote Genossen“ vor sich gehabt. Und weil die Verbindung zwischen revolutionären Konzepten und sozialen Bewegungen nicht zustande kam, sei diese Niederlage unausweichlich gewesen.
Erst kurz vor Mitternacht kommt das Publikum ins Gespräch. Einer will wissen, ob die GenossInnen denn weiterhin einen Sinn im bewaffneten Kampf sehen? Karl-Heinz Dellwo antwortet, er wolle ein solches Konzept zur Zeit „nicht vorschlagen“. Keiner findet sich, der auf dem Podium widerspricht. Für Tonino Paroli ist es jetzt die Aufgabe der „neuen Generationen, sich ihren Wert aus unseren Erfahrungen zu ziehen“.
„Noch Fragen?“ fragt der Diskussionsleiter kurze Zeit später. Keiner meldet sich.
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