: Der 2. Juni war die Zäsur
Nach dem Tod Benno Ohnesorgs radikalisierte sich die Studentenbewegung rapide. Viele fühlten sich als die Kerntruppe einer sozialistischen Umwälzung ■ Von Christian Semler
Wer zum Teufel hat den Begriff „68er“ erfunden und uns damit die drückende Analogie zu den demokratischen Revolutionären von 1848 aufgebürdet? Eins steht fest: wie alle zur Mythenbildung einladenden Benennungen ist die der 68er irreführend. Der 2. Juni 1967 war entscheidend.
Vor dem 2. Juni war die Revolte auf den Campus zentriert, das war „befreites Gebiet“, auf das sich die Studenten zurückzogen, nachdem sie, meist auf dem Ku'damm, die „städtischen Autoritäten“ gefoppt hatten. Danach wurde die Stadt zum Aktionsfeld, und aus der Studentenbewegung wurde die Außerparlamentarische Opposition. Vor dem 2. Juni dominierten demokratische Forderungen, die Legitimität der Ansprechpartner, Rektor, Parteien, Institutionen, blieb anerkannt. Nach dem 2. Juni begann der Siegeszug der Selbstorganisation, des „Räteprinzips“ und der Vorstellung vom einheitlich reaktionären, „autoritären Staat“.
Vor dem 2.Juni war der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) ein reichlich elitäres Unternehmen. Ohne Grundkenntnisse des Marxismus und ohne vorhergehende sozialistische Arbeit (und sei es nur an Karteien) war ein Aufnahmeantrag chancenlos. Nach dem 2. Juni wurde jedermann/frau aufgenommen, auch wenn die Berufsbezeichnung „Hausfrau“ lautete. Die frischgebackenen Revolutionäre wurden auf Projektgruppen verteilt, wo Aktion und Schulung, Theorie und Praxis zusammengehen sollten.
Wenn man von jenem fatalen Frühlingsabend vor der Deutschen Oper als Einschnitt ausgeht, stellen sich zwei Fragen: Wie war es möglich, daß sich nach dem 2.Juni binnen weniger Wochen und Monate eine im Grunde brave, bei aller Kritik den Prinzipien der parlamentarischen Demokratie anhängende Bewegung dermaßen radikalisierte? Und woher nahmen die Studenten die Gewißheit, daß ausgerechnet sie dazu berufen seien, die Kerntruppe einer sozialistischen Umwälzung abzugeben?
Fangen wir beim Naheliegenden an: dem Bild der linken Studenten von sich und der Welt. Sie entstammten bürgerlichen Verhältnissen, ihre akademische Zukunft war nicht verdüstert wie die späterer Studentengenerationen. Sie arbeiteten an einer Universität mit demokratischem Anspruch, an der sie sich oft genug eingeschrieben hatten, um dem Wehrdienst zu entgehen, den sie ablehnten – die Vergangenheit ihrer Väter vor Augen. Sie waren sensibilisiert für den Widerspruch zwischen proklamierten Werten und der Wirklichkeit, in der Uni wie in der Gesellschaft, in der BRD wie in Vietnam.
Sie konnten kaum auf Verbündete zählen, vor allem nicht in West-Berlin. Schon in den zwei Jahren vor dem 2. Juni hatten sich Senat, Parteien und Medien zu einer Ausgrenzungsfront zusammengeschlossen. In Westdeutschland herrschte die Große Koalition, deren Lieblingskind, die Notstandsgesetze, von den Studenten als Instrument zur Beseitigung des demokratischen Rechtsstaats angesehen wurde. Die Strategie gezielter Provokationen wurde von der Staatsmacht als Angriff aufs System verstanden. Entsprechend scharf war die Reaktion von Polizei und Gerichten. Sinnliche Erfahrungen wie der Polizeiknüppel auf dem Kopf führten rasch zu theoretischen Verallgemeinerungen. Der 2. Juni konzentrierte diese Erfahrungen. Er war die Probe aufs Exempel.
Unter diesen Bedingungen waren diejenigen arm dran, die die Revolte in die leninschen Raum- Zeit-Koordinaten einordnen wollten. Im Raum: Bündnisse. In der Zeit: Etappen. Wer dermaßen aus dem institutionellen Spiel ausgegrenzt wird, sucht sich seine Verbündeten in anderen Ländern und Zeiten. Im Realsozialismus kamen nur die Verfemten und Versprengten in Frage. An die Stelle der verachteten Väter traten die roten Großväter. Und an die Stelle des stillgelegten Klassenkampfs zu Hause die weltweiten Befreiungsbewegungen.
Hatte nicht unter der Führung eines roten Großvaters die Jugend Chinas soeben vor Augen geführt, wie man mit einem scheinbar allmächtigen, verrotteten Establishment umspringt? Und zeigten nicht die Siege der vietnamesichen Genossen, daß nicht die Ausstattung der bewaffneten Unterdrückungsmacht über die Befreiung entscheidet? Da konnten die Vertreter den Zentralrats der FDJ noch so bedenklich mit den Köpfen wackeln. Nach dem 2. Juni waren Tausende von Studenten vom Gefühl der Gleichzeitigkeit weltweiter Erhebungen durchdrungen.
Auf kuriose Weise verband sich dieses übersteigerte Bewußtsein von der eigenen Rolle im revolutionären Weltprozeß mit der Vorbereitung der jeweils nächsten Aktion, über die zur Freude der mithörenden Verfassungsschützer mit heute kaum noch nachvollziehbarer Ausdauer gestritten wurde. Daher die ständige Mobilisierung komplexer Theorieversatzstücke für die Bedürfnisse des Tageskampfs, daher das Faszinierende resektive Abstoßende der studentischen Rede, die nach dem 2. Juni auf Eingeweihte wie auf Ahnungslose niederprasselte.
Das Bedürfnis, die Öffentlichkeit in Berlin nach dem 2. Juni über die Wahrheit aufzuklären, offenbart das Dilemma der Studentenbewegung. Sie will, sie muß über den Campus hinaus aufklären, aber der Weg ist versperrt. Dutzende mit Flugblättern bewaffnete Diskussionstrupps treffen auf eine Bevölkerung, die die Studenten am liebsten auf Müllwagen laden und „nach drüben“ entsorgen will.
Oft hat man diese Exkursionen mit dem Schicksal der russischen Narodniki verglichen, die im 19. Jahrhundert aufs Land ausschwärmten, um die Masse der Bauern für die soziale Revolution zu begeistern. Zurückgewiesen, verprügelt und denunziert wandten sich nicht wenige von ihnen später dem Terrorismus zu, kehrten zu Familie/Karriere zurück oder beugten sich der strengen Logik des russischen Marxismus: erst die demokratische, dann die sozialistische Revolution. Aber die Berliner Studentenbewegung des Jahres 1967 schlug zunächst einen näherliegenden Weg ein.
Sie entdeckte das Terrain der Gegenöffentlichkeit und der außeruniversitären Aufklärung. Dem ersten Zweck sollte die Kampagne gegen Springer dienen, die seit dem Sommer 1967 lief. Für den zweiten wurde die kritische Universität aus der Taufe gehoben. Erstmals wurde das schon in den vorhergehenden Jahren angeknackste professorale Wissensmonopol nicht nur in Frage gestellt, sondern „kritische Wissenschaft“ auch einem außeruniversitären Publikum zugemutet. Und erstmals wurde der Versuch unternommen, die bewußtseinsdominierende und -verdrehende Macht großer Meinungskonzerne anzugreifen, eigentlich zu unterlaufen.
Gleich den Narodniki glaubten viele der linken Studenten daran, daß die Malocher „eigentlich“ einen klaren Durchblick hätten, daß sie aber ein tiefsitzendes Gefühl der Vergeblichkeit ans kapitalistische System fesselte. Daher: „Das Problem des Bild-Lesers ist nicht seine Dummheit, sondern seine Ohnmacht.“ Von dieser Perspektive aus erschienen studentische Aktionen plötzlich in neuem Licht. Sie gewannen Bedeutung als Lehrstücke. Dadurch büßten sie aber, wie die Lehrstücke Brechts, die Leichtigkeit und den Witz ein, die die Provokationen der Studenten bis jetzt so anziehend gemacht hatte. Denn wenn es nur drauf ankam, erfolgreiche Gegenwehr zu demonstrieren, dann brach die ursprüngliche „Provokationsstrategie“ in sich zusammen.
„Provokation“ hatte zuerst keineswegs bedeutet, die Mächtigen zum Einsatz ihrer kriegerischenn Mittel zu zwingen, einen Zustand nackter Gewaltanwendung heraufzubeschwören, um anschließend zu rufen: „Das also ist euer wahres Gesicht!“ Vielmehr sollte die Gewaltmaschine ins Leere laufen, der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Die seitens der Studenten eingesetzten Mittel mußten sich zudem ursprünglich vor einer Öffentlichkeit verantworten, die streng auf die Einheit von Aktion und Aufklärung achtete. Das hatte den Mitgliedern der Kommune 1 kurz vor dem 2. Juni die Mitgliedschaft im SDS gekostet. Sie galten dort als Hofnarren Springers.
Ob „Provikationsstrategie“, ob „Lehrstück“ – all das erwies sich als untauglich zur Lösung der Frage, wie sich der universitäre zum außeruniversitären Kampf verhalten solle. Wie der „Primat des Politischen“ erhalten, wie angesichts der 100 Blumen einer neuen Subkultur die sozialistische Stoßrichtung des ganzen Unternehmens gewahrt werden könne. Zwei Jahre lang führten viele der „SDS-Autoritäten“ einen Windmühlenkampf, entwarfen seltsame Gebilde wie die SoMao (Sozialistische Massenorganisation). Dann kapitulierten sie vor der Organisationsfrage, für die die Studentenbewegung keinen Schlüssel bereithielt. Die mit Georg Lukacs sagten: „Das Proletariat ist alles oder nichts“, verfielen dem proletarischen Organisationsfieber. Die Zeit der innersozialistischen Ausgrenzungen setzte ein. Sicher wäre es klüger gewesen, einen lockeren politischen Dachverband zu gründen, und sei es nur zu Zwecken des verachteten parlamentarischen Kampfs. Unbedingtheit des Willens, Größenwahn, Frustration und Ungeduld verhinderten das Projekt. Als es mit acht Jahren Verspätung in Form der Alternativen Liste Gestalt annahm, hatten sich Zeitumstände wie Hoffnungen grundlegend verändert.
Für die Studentenbewegung nach dem 2. Juni gibt es zwei konträre Erklärungsmuster. Nach dem einen bewirkten die Studenten – teils gegen ihren Willen – jenen Demokratisierungsschub, der einen Obrigkeitsstaat in ein einigermaßen erträgliches Gemeinwesen verwandelte. Nach der anderen zerstörten die Rebellen mit ihrer „Kulturrevolution“ ein intaktes Verhaltens- und Wertesystem, errichteten den Götzen „Individuelle Selbstverwirklichung“ und hinterließen nichts als anmaßende Leere. Also in beiden Fällen ein voller Erfolg, trotz des Scheiterns der sozialistischen Hoffnungen.
Ob aus diesem Erfolg etwas Nennenswertes für die heutigen Verhältnisse zu lernen ist? Zum Beispiel, daß Rebellion immer, für jede Generation neu, gerechtfertigt ist? Das sollen bitte die Nachgeborenen entscheiden, um deren Nachsicht hiermit gebeten wird.
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