: Ein Wolf zwischen Wahrheit und Lüge
Es war eine Welturaufführung: Seit gestern sind die Memoiren des früheren DDR-Spionagechefs Markus Wolf in 14 Ländern zu kaufen. Das Buch liefert nette Agentenstories und Politdetails, doch die Fakten sind mit Vorsicht zu genießen ■ Von Udo Scheer
„Dieses Buch ist ein Wagnis“, stellt Markus Wolf, 1986 pensionierter Generaloberst der DDR- Aufklärung, seinen Erinnerungen voran. Oder stammt auch der Satz schon von seiner Ghostwriterin Anne McElvoy? Dieses Buch ist ein doppeltes Wagnis für jeden, der zwischen der Faktenfülle nicht den Sirenengesang und die Schweigelöcher dieses Spionagewolfes beachtet.
Als guter Erzähler breitet er Familiensaga und Biographisches aus. Er schildert die zurechtgestutzte deutsch-deutsche Politik im Schatten der Großmächte. Er berichtet vom Aufbau und den hehren Motiven seiner „Aufklärung“ und deutet die gelegentlichen verheerenden Folgen an. Lieber aber liefert er süffisante Agentenstories und fördert Erstaunliches über manchen westdeutschen Politiker ans Licht.
Nach zwölf Jahren sowjetischer Exil- und Lebensschule wird der Sohn des humanistischen Schriftstellers und Arztes Friedrich Wolf kurz nach Walter Ulbricht ins zerstörte Berlin eingeflogen. Der beauftragt ihn mit Rundfunkarbeit. 1949 steigt Markus Wolf zum Ersten Rat des DDR-Botschafters in Moskau auf und wird 1952 durch Anton Ackermann zur Organisation des Nachrichtendienstes zurückbeordert. Hier entfaltet er mit Intelligenz, Kreativität und Konspiration sein eigentliches Talent.
Seine Bewährung für das Regime bestand dieser Wolf mit dem 17. Juni 1953. Der Auftrag seines „Dienstes“, wie er ihn gerne nennt: Beweise beibringen, daß der Arbeiteraufstand nichts als ein Putschversuch westlicher Kalter Krieger war. „Material zusammenzustellen, dem sich entnehmen ließ, daß Pläne bestanden, die DDR zu liquidieren, war ein Kinderspiel.“ Über die Qualität seiner Dienstleistung und die Folgen bleibt er lieber still. Das Volk bezahlte seinen Aufstand gegen den „Spitzbart“ mit drei vollstreckten Todesurteilen,3.000 Verurteilungen zu insgesamt 8.000 Jahren Zuchthaus und der Erstickung jeden Widerspruchs.
Wolf stieg zum Ersten Stellvertreter Hermann Wollwebers, des neuen Ministers für Staatssicherheit, auf. Sein Nachrichtendienst erfuhr die Aufwertung zur Hauptabteilung XV.
„Sie (die Aufklärer) sind nicht verantwortlich für die Unterdrückung im Inneren des Landes“, beschwor Wolf „in eigenem Auftrag“ (1991). Der Erste Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit schiebt heute alle Schuld auf Mielke und den von ihm erfundenenBegriff der „ideologischen Diversion“, der [...] für unser Land eine so verhängnisvolle Rolle spielen sollte“. Hier beginnen seine Probleme mit der Wahrheit. 1997 bestreitet er die selbstverständliche Verflechtung zwischen „Aufklärung“ und „Abwehr“ mit seinem ganzen Gewicht als Symbolfigur gegen das Stasi-Unrecht: „Ich war mirbei jeder Entscheidung meines Lebens bewußt, ich hätte mich auch verweigern können – mit unangehmen Folgen, aber ohne Gefahr für mein Leben.“
Macht muß süß sein und besonders reizvoll, ist man oberster Agentenführer und -jäger im Knotenpunkt der Informationsströme und Desinformationsstrategien. Wolf öffnet das Nähkästchen seines Geheimdienstes. Natürlich nur einen Spalt, denn auch wenn der Exgeneraloberst seine weiße Jacke mit den goldenen Epauletten in den Schrank gehängt hat, so gebiete ihm seine Offiziersehre, Abhängige auch heute zu schützen. Zur Entschädigung erzählt der Wolf von mehr oder weniger bekannten Flops und Geniestreichen, von seinem ersten Überläufer 1953, der die Vulkan-Affäre auslöste, und von Werner Stiller 1981, jenem Offizier der DDR-Wirtschaftsspionage, dessen Rücklieferung ein Mittelsmann für eine Million Mark angeboten haben will. In seinem Panoptikum werden Überläufer und erpreßte Überläufer auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs in den Medien als Beweis der Überlegenheit ihrer Systeme vorgeführt.
Inoffizielle Mitarbeiter schwimmen im Flüchtlingsstrom der fünfziger Jahre gen Westen, steigen als Wissenschaftler in die Kern- und Luftfahrtforschung ein oder als Mitarbeiter in den politischen Zentralen auf. Fritz Erler, der Fraktionsvorsitzende der SPD, und Heinz Kühn, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, informieren konspirativ über innen- und außenpolitische Tendenzen. Oder wurden sie abgeschöpft. Bei „Generäle für den Frieden“ um Wolf Graf von Baudissin und Gert Bastian will er mit einer 100.000-Mark-Spende im Jahr seine schmutzigen Finger im Spiel gehabt haben. Über die Gegenleistungen, vermutlich ohne Wissen der meisten Idealisten, schweigt Wolf. Die „hochkarätigen Verfassungsschützer“ Hansjoachim Tiedge und Klaus Kuron verkaufen Informationen unter anderem über Agenten und Doppelagenten für ein gutes Salär (Kuron summa summarum für 700.000 Mark). Über die graue Eminenz der SPD, Herbert Wehner, hat er gegenüber der amerikanischen Ausgabe ein eigenes Kapitel hinzugefügt. Mit seinem in den Stern lancierten Schnupperauszug gelang dem Meister der Vermarktung ein marktstrategisch cleverer Streich – und dem Feuilleton massenhaft heiße Luft. War Wehner ein Verräter, lautete eine der freundlicheren Spontanreaktionen. Die Antwort gab bereits Frau Seebacher-Brandt. Akten, die seinen Verrat vor dem sowjetischen NKWD und bei Verhören im schwedischen Exil dokumentieren, die ihn ins politische Aus manövrieren konnten, lagerten laut Wolf sowohl in Honeckers als auch Mielkes Panzerschrank. Wolf betont: „Wehner war nie ein Agent im klassischen Sinne.“ Eben das ist eine Leistung des DDR-Geheimdienstes: Er beschäftigte nicht nur „Agenten im klassischen Sinn“.
Konspirativ habe Wehner die DDR-Führung 1956 vor Autonomiebestrebungen und Bundeswehreinmarsch im grenznahen Magdeburger Raum gewarnt. Sein ständiger Kontaktmann seit 1966, der DDR-Unterhändler Wolfgang Vogel, berichtete – so Wolf – über ihre Gespräche direkt an Mielke. Der habe eigenhändig die Berichte an Honecker verfaßt und Wolf nur vorgelegt. Angesichts des dreifachen Filters vor den Wolfschen Tagebuchnotizen verblüfft es, wie perfekt er Wehners Sprachstil überliefert. Auf Öland soll er im August 1981 vor Willy Brandt gewarnt haben, der die Sowjetunion zur Aufgabe der DDR bewegen wolle. Honecker habe er zu „entschlossenen Maßnahmen“ der sozialistischen Staaten gegen das Polen der Solidarność aufgefordert. „Es gehe leider nicht ohne Gewalt.“ Wolfgang Vogel dementierte vehement: „Das Gegenteil war der Fall. Wehner hat uns gewarnt, es in Polen nicht auf die Spitze zu treiben.“ Verschleierungstaktik, oder haben beide recht? Zweifellos weiß Wolf mehr, als er sagt. Liefert er also Wehner aus, um von anderen abzulenken? Oder meint er das Kapitel als warnenden Fingerzeig: Zaubern wir fürs erste ein totes Kaninchen aus dem Zylinder!
Bedeckt hält Wolf sich auf dem Feld der Wirtschaftsspionage, auskunftsfreudiger gibt er sich dagegen über das deutsch-deutsche Politschach zu Füßen der Großmächte. Danach ließ Konrad Adenauer seinen Vizekanzler und Finanzminister Fritz Schäffer einen Vorstoß in Sachen deutsche Konföderation unternehmen, der wiederum lief in Wolfs Armen leer. Nach Wolf nutzte nicht nur Genscher den nachrichtendienstlichen Unfall Günter Guillaume in Sachen Brandt-Sturz. Er bietet Einsichten, wie der späte Ulbricht Konföderationsgedanken nachgehangen habe, während Honecker bereits die Fäden hinter dessen Rücken zog. Hübsch zu lesen, die Männerfreundschaft zwischen DDR-Devisenbeschaffer Schalck-Golodkowski und Strauß, der unbedarft militärische Interna ausplauderte. Kaum verwunderlich, daß manche aufgedeckte Intrige und historische Lebenslüge in der alten Bundesrepublik bereits vor Erscheinen des Buchs Entrüstungsstürme entfachte. Doch gerade hier bietet Wolf interessannte Einblicke aus der Tempelsicht. Vorsicht und Prüfung der Fakten sind freilich bei einem, der für seine Ideologie Wahrheit und Lüge vermengt, dringend geboten.
Im Falle des Stasi-Überläufers Werner Stiller habe er es abgelehnt, das Kopfgeld zu zahlen. Im Fall des 1981 hingerichteten MfS- Offiziers Werner Teske, ebenfalls Abteilung Wirtschaftsspionage, schreibt der Wolf: „Das war juristisch nicht zu rechtfertigen, denn es war nicht zum Verrat gekommen.“ Das Urteil für Teskes Vorbereitung zur Flucht: Tod durch Genickschuß. Sieben Wochen vor dem Urteil enthielt eine interne „Information“ die Anweisung, wie das Todesszenario abzuwickeln sei. Das Schreiben vermerkt auf dem Verteiler: Markus Wolf. Heute äußert Wolf sein Unverständnis, daß es nicht zum Gnadenerlaß kam.
Wie sah sie aus, die von Wolf vielbeschworene Abgrenzung seiner „Aufklärung gegenüber der repressiven, nach innen gerichteten „Abwehr“? Ein Beispiel aus einem der drei erhalten gebliebenen Bände des Zentralen Operativen Vorgangs (ZOV) „Opponent“ (Reg. Nr. XV 5420/82) zu Jürgen Fuchs . (22 der 25 Bände bis Dezember 1989 gelten als vernichtet.) Mit Schreiben vom 4. Mai 1982 erklärte der Chef der „Aufklärung“, Markus Wolf, dem Leiter der „Abwehr“ HA XX, Generalmajor Kienberg (zuständig für Kultur, Kirche und Opposition), seine Unterstützung gegen den in der DDR, Berlin-Friedrichshain, wirkenden Jugendpfarrer Rainer Eppelmann. Gegen den nach West-Berlin ausgebürgerten Schriftsteller Jürgen Fuchs erwirkte seine HVA am 26.Mai 1982 ein Ermittlungsverfahren und Haftbefehl wegen seines Engagements bei den Bonner Friedensdemonstrationen 1981/82 und seiner intensiven Kontakte zu Jenaer und Ostberliner Friedenskreisen. Die HVA begründete den Befehl mit „geheimdienstlicher Steuerung“ und „Organisierung einer Pseudofriedensbewegung in der BRD mit antisowjetischer Stoßrichtung“.
Markus Wolfs „Aufklärung“ war immer und durch ihn persönlich ausdrücklich verpflichtet, mit der „Abwehr“ zusammenzuarbeiten, wie hier im Kampf gegen die blockübergreifende Friedensbewegung und die innerkirchliche Opposition. Heute schreibt Wolf in seinen „Erinnerungen“ an die DDR-Friedensbewegung: „Die Staatsmacht reagierte mit Repressionen statt mit Dialog. [...] Ich wandte mich dagegen, die Auseinandersetzung mit den Friedensgruppen der Staatssicherheit zu überlassen.“
Angesichts solch hochgradiger Verlogenheit ist es gut zu wissen, daß in Zirndorf noch 5.500 Säcke vorvernichteter Stasi-Akten ihrer Rekonstruktion harren. Markus Wolf, der Täter und interessante politische Zeitzeuge, hat es versäumt, sein Erinnerungsflöz bis zur Wahrheit abzutragen. Angesichts seines „Dienstes“ war das zu erwarten.
Udo Scheer, Schriftsteller und Journalist, gehörte zur Bürgerrechtsbewegung in Jena.
Markus Wolf: „Spionagechef im geheimen Krieg. Erinnerungen“. List Verlag, München, 512 Seiten. Preis: 44 DM
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