Kleine Heimat Schöneberg

Alltag junger Einwanderer. Das andere Stadtviertel ist Fremdland, der Osten sowieso. Auszüge einer Untersuchung in Berliner Jugendzentren  ■ Von Arnd-Michael Nohl

Orhan, Murat, Zeki und Ercan sind Jugendliche im Alter zwischen 17 und 22 Jahren. Wir haben sie in verschiedenen Jugendzentren des Berliner Bezirks Schöneberg kennengelernt, wo sie häufig im Kreise ihrer Freunde anzutreffen sind. In den Cliquen gibt es niemanden, der noch zur Schule geht. Einige der jungen Türken sind in der Ausbildung, andere arbeitslos. In ihrer Freizeit spielen sie Karten, Billard, einige „sprayen“. Eine Gruppe verbringt ihre freien Abende mit Breakdance.

Immer, wenn wir zu Forschungszwecken eines der Jugendzentren besuchen, fühlen wir uns wie Eindringlinge in ein Wohnzimmer. Nachdem wir die Jugendlichen näher kennengelernt haben, klärt uns Zeki darüber auf, daß wir die Möglichkeit, im Jugendzentrum zu forschen, lediglich der Großzügigkeit und dem Vertrauen der Jugendlichen zu verdanken hätten. Keine Hausordnung, sondern die „ständigen Gäste“ des Jugendzentrums bestimmen dessen Spielregeln.

Die Jugendlichen kennen sich von klein auf und sind, wenn schon nicht dickste Freunde, so doch wenigstens „Kumpels“, wie sie selbst sagen. Die gemeinsame Sozialisation in den Straßenzügen des Viertels schafft gegenüber Fremden eine Solidaritätsbereitschaft untereinander.

Probleme mit Diskriminierung

Obwohl keine der uns bekannten Gruppen von Auseinandersetzungen mit Skinheads berichtet, kommt das Gespräch unter den Jugendlichen immer wieder auf Diskriminierungen. Zeki, der nach dem Abbruch einer Ausbildung wieder auf Arbeitssuche ist, erzählt von Gesprächen mit Arbeitgebern: „Man redet mit denen am Telefon, macht einen Termin klar. Am Telefon kriegen die nicht mit, daß man Ausländer ist... Weil wir zum Teil sehr gut Deutsch sprechen... Und wenn wir dort hingehen, sehen die unsere schwarzen Haare und sehen daran, daß wir Türken beziehungsweise Ausländer sind. Und danach stellen sie irgendwelche Hürden auf, daß man diesen Beruf nicht kriegt. Also, wenn du zum Beispiel aussiehst wie ein Zwanzigjähriger, sagen die, diesen Job kriegt man erst mit 25 Jahren...“ Zeki wirft den Arbeitgebern vor, einem „Nationalitätenmensch“ einen „richtigen Arbeiter“ vorzuziehen.

In diesem auf einer recht allgemeinen Ebene gehaltenen Diskurs ist nicht erkennbar, ob der Arbeitgeber Zeki tatsächlich diskriminieren wollte oder ob der Jugendliche die fehlgeschlagene Bewerbung so interpretiert.

Genau dies ist aber das Problem, das sich in den Erzählungen vieler Jugendlicher über rassistisches Verhalten ausdrückt: Da diejenigen, die diskriminieren, sich hinter „Ausreden“ verstecken und insofern nicht authentisch sind, können die Jugendlichen sich der Intentionen ihres Gegenübers nicht sicher sein. Eine inhaltliche Auseinandersetzung über rassistisches Verhalten wird dadurch unmöglich. Auf der anderen Seite laufen die Jugendlichen Gefahr, Situationen fehlzuinterpretieren. Diskriminierungserfahrungen, häufig außerhalb konkreter Situationen, zum Beispiel durch mündliche Weitergabe oder Medien transportiert, gerinnen zu stereotypen Interpretationsmustern unklarer Situationen. Nicht nur der einfache, offene Rassismus gefährdet also die Kommunikation zwischen Deutschen und Migranten, das Problem ist viel komplexer.

Die jungen türkischen Männer werden gerade mit dem Eintritt in den Arbeitsmarkt mit Diskriminierung wegen ihrer ausländischen Herkunft konfrontiert. In der folgenden Erzählung zeigt sich, in welch mißliche Situation Murat dadurch gerät, daß er die Diskriminierung nicht thematisieren kann: „Seit ich arbeite, weiß ich, daß ich Ausländer bin. Davor war mir das gar nicht bewußt, die waren alle gleich für mich in der Schule. Die nennen mich auf der Arbeit alle Mustafa, die können nicht meinen richtigen Namen aussprechen.“ Erst dadurch, daß Arbeitskollegen die individuelle Authentizität von Murat nicht anerkennen und ihn mit einem ethnischen Namen etikettieren, werden Murats Identifikation mit seinen deutschen Gleichaltrigen und seine Selbstgewißheit erschüttert. Die Fremdetikettierung führt zu einer Reflexion der eigenen Identität, ohne daß allerdings gleich in einer nationalen Zugehörigkeit Zuflucht genommen würde.

Die Identifikation mit dem Stadtviertel

Das Stadtviertel hat eine besondere Bedeutung für die Identität der Jugendlichen. In Zekis Gruppe zeigt sich eine Solidaritätsbereitschaft, die alle diejenigen einschließt, die im gleichen Quartier aufgewachsen sind. Wenn Ercan und seine Freunde über ihr Wohngebiet reden, verschmelzen der Ort der gemeinsamen Sozialisation und die Aura der eigenen Gruppe. Die enge Bindung an den heimatlichen Bezirk wird auch in der Abgrenzung von anderen Stadtteilen konstruiert. Angesichts drohender Diskriminierungen gehen die türkischen Jugendlichen nur in Gruppen in den Ostteil der Stadt. Aber auch der Bezirk Kreuzberg erscheint in den Erzählungen von Zeki als Synonym für Chaos: „Nee, hier in Schöneberg ist es eigentlich gut. Ich war heute in Kreuzberg, ich stieg aus und dachte, ich bin in der Türkei. Ich schwör' dir, die ganzen Junkies und die ganzen Türken.“

Während Schöneberg Heimat verkörpert, ist die Türkei für die jungen Migranten ein fremdes Land, in dem sie Urlaub machen oder Verwandte besuchen. Zwar berichten die Jugendlichen von Plänen ihrer Eltern, im Rentenalter in die Türkei zurückzukehren. Wie unvorstellbar eine „Rückkehr“ aber für sie selbst ist, wird schon in den Erzählungen über vergangene Urlaube deutlich. Diese Besuche, von Murat als „schrecklich“ bezeichnet, werden bisweilen aus Heimweh, nicht nach Deutschland, sondern nach Schöneberg, vorzeitig abgebrochen. Neben solchen Bindungen vollziehen sich eine „Türkisierung“ und Islamisierung, so sie denn überhaupt zu beobachten sind, allenfalls auf einer symbolischen Ebene. Demgegenüber weisen die neue Liebe zur kleinen Heimat im Stadtviertel, das Streben nach Erfolg in der deutschen Gesellschaft und die Aneignung öffentlicher Räume darauf hin, daß neue Wege für diese Menschen gefunden werden müssen, die immer noch ausländisch und einheimisch zugleich sind.