: Eine Gemeinde in der Glitzerwelt
Die St.-Katharinen-Kirche im Frankfurter Bankenviertel: Obdachlose kommen oft, Banker nur selten ■ Von Severin Weiland
Pfarrer Ulrich Dusse kann so leicht nichts beeindrucken. Schon gar nicht jene Szene, die sich vor seiner Kirche abspielt. Ein Mann hat gerade einem Passanten eine Plastiktüte entrissen. Menschen bleiben stehen, ein Ruf erschallt: „Haltet ihn, haltet ihn!“ Voller Panik läßt der Dieb die gelbe Tüte auf die Straße fallen. Für einen kurzen Augenblick bleiben die Menschen stehen, dann setzen sie sich wieder in Bewegung. „Das war mal wieder so ein Überfall“, sagt Dusse zu seinem Kollegen Hans-Christoph Stoodt.
Nein, den 60jährigen Dusse und seinen 42jährigen Kollegen kann nichts mehr so leicht umhauen. Ihre St.-Katharinen-Kirche liegt mitten im Zentrum von Frankfurt am Main, fünf Minuten vom höchsten Hochaus Europas entfernt, dem gerade fertiggestellten Turm der Commerzbank, und nur eine Minute von der Zeil, jener langgezogenen Einkaufsmeile. Ein Ort, den täglich 80.000 Menschen passieren, wie eine Interessengemeinschaft von örtlichen Kaufleuten gezählt hat.
Ein guter Ort also für eine Kirche. Denn wo sonst könnte man noch so viele Menschen ereichen. So läßt Pfarrer Stoodt die Türen des Baus an den Wochentagen bis 18 Uhr offen. Ungewöhnlich für protestantische Kirchen, die meist so verschlossen sind wie Trutzburgen. Doch die Kirche ist nicht nur ein bauhistorischer Anziehungspunkt – 1681 wurde sie fertiggestellt, nach dem Zweiten Weltkrieg in modernisierter Form wiederaufgebaut. Der Begründer der Bekennenden Kirche zur Zeit des Nationalsozialismus, KZ-Häftling und Pastor Martin Niemöller, arbeitete hier nach 1945.
Stoodt, der in der Kirche auch sein Büro hat, pflegt bewußt ein offenes Konzept. Die Kirche biete einen Raum, der „nicht von der Ökonomie, der Politik oder gar von Bildungsangeboten besetzt ist“. Wer eintritt, soll herumschlendern dürfen, sich hinsetzen, nachdenken oder auch beten. Eine besonders geschickte Form der Mission also? Solch eine Bemerkung hält Stoodt für unangebracht: „Wenn ich jedem hinterherstürzen würde, dann verhielte ich mich wie ein ekelhafter Buchhändler, der die Besucher nicht in Ruhe stöbern läßt.“
Rund 3.000 Gläubige zählt die St.-Katharinen-Gemeinde. Ein Großteil von ihnen wohnt einen halben Kilometer nördlich im Westend, einem der älteren Viertel Frankfurts. Rund um die Kirche leben nur noch wenige Menschen – Büros und Einkaufshäuser haben sich in den letzten Jahrzehnten ausgebreitet. „Unsere Kirche“, stellt Dusse fest, „hat keinen räumlichen Bezug mehr zur Gemeinde.“
Das Gemeindehaus liegt im Westend, wenige hundert Meter von der Alten Oper entfernt. Hier wohnen meist ältere Menschen und eben jene, die nicht hinausgezogen sind in das Einerlei der Reihenhauskultur am Stadtrand. In der City hat kaum etwas Bestand. Schon in den siebziger Jahren wütete hier die Abrißbirne.
Die Kirche bleibt davon nicht unberührt. „Frankfurt ist ein zentrifugaler Ort“, sagt Stoodt, eine Chance hätten allenfalls auf Zeit angelegte Projekte. Eines davon kann immerhin schon auf eine längere Geschichte zurückblicken: die Obdachlosenbetreuung. Seit zehn Jahren hält die St.-Katharinen- Kirche für mehrere Wochen im Winter Schlafplätze bereit. Obdachlose werden kostenlos ärztlich betreut.
Seit 24 Jahren schon treffen sich einmal in der Woche Ehepaare in St. Katharinen. Es ist eine zwanglose Runde, Bankangestellte sind dabei, auch ein Altphilologe. 18 Frauen und Männer haben sich an diesem heißen Juniabend im Gemeindehaus im Westend versammelt und sprechen über den Einfluß der Sekten. Erzählt wird von Freunden oder Bekannten, die selbst oder deren Kinder Kontakt zu Sekten hatten. Pfarrer Dusse verteilt Bücher, weist auf einen Artikel in einer Zeitung hin.
Man wechselt die Themen, kommt von Scientology auf die Kriminalität im Stadtteil. Ein Frau erzählt, daß wegen der zunehmenden Einbrüche sich kürzlich 40 Nachbarn in einer Kneipe getroffen hätten. Eigentlich, resümiert sie, hätte man sich früher über die Gemeinde kennengelernt, heute seien es eben konkrete Anlässe, die Menschen zusammenführen. Der Ehepaar-Kreis steht schon lange auch Singles offen – auch eine Dame im betagten Alter ist dabei. Die Runde erinnert ein wenig an einen Volkshochschulkurs: Man kommt zusammen, um sich anregen zu lassen und sich auszutauschen. „Wir diskutieren über alles mögliche“, sagt eine Frau. Sogar über die Bedeutung des Euro. Das Gebet am Ende des Abends unterscheidet den Kreis dann doch von einer Bildungsveranstaltung.
Die St.-Katharinen-Kirche liegt nur unweit von den Türmen der Finanzwelt. Ab und zu kommen auch Bankangestellte zu den Kurzandachten am späten Nachmittag, kurz bevor das Gotteshaus schließt. Aber offizielle Kontakte zu den Banken sind kaum vorhanden. Sponsorengelder von Banken erhält die Gemeinde nicht. Pfarrer Stoodt hätte dagegen keine Einwände. Nur zehntausend Mark stehen pro Jahr für Projekte zur Verfügung. „Damit versuche ich eben auszukommen“, sagt er. Kürzlich hat Norbert Walter, Chefökonom der Deutschen Bank, auf der Dekanatssynode geredet. Pfarrer Stoodt hat an dessen Ausführungen keine gute Erinnerung. Die neoliberalen Theorien des Bankers haben ihn derart verärgert, daß er einen erbosten Brief an Walter über die ethische Verantwortung der Finanzwelt geschrieben hat. „Auf die Antwort bin ich schon gespannt“, sagt Stoodt.
Schon seine Eltern waren Theologen. Seit Mai 1994 ist Stoodt in der St.-Katharinen-Kirche. Er ist einer jener evangelischen Theologen, der so gar nicht in den apolitischen Mainstream der neunziger Jahre zu passen scheint. Eher schon würde man ihn in den achtziger Jahren verorten, als die Kirche auf die Friedens- und Dritte-Welt- Bewegung einen spürbaren Einfluß ausübte. Stoodt ist ein Mann, der das Religiöse mit dem Weltlichen verbindet. Das verschafft ihm Respekt, aber auch eine Menge Ärger bei den Gemeindemitgliedern.
Da ist zum Beispiel die Fotoausstellung über die Lage der Kurden, die in diesen Wochen in der Kirche gezeigt wird. Nachdem die Stadtbücherei die Schau abgelehnt hatte, nahm sich Stoodt umgehend der Sache an. Es gab Ärger in der Gemeinde, schließlich wurde er gar vor die Kirchenleitung der evangelischen Kirche in Hessen und Nassau zitiert. Ärger ist Stoodt allerdings gewöhnt. Aber das gehöhrt für ihn wohl zur Rolle eines streitbaren Christen. Schon vor zwei Jahren, als die Frankfurter Polizei eine Besetzung von Kurden gewaltsam räumte, gehörte er einer Vermittlergruppe an. An das gewaltsame Ende erinnert er sich noch gut. Es macht ihn heute noch wütend: „Das war einer der härtesten Einsätze, die es hier in Frankfurt seit langem gegeben hat.“
In der St.-Katharinen-Kirche wurden schon gesellschaftliche Probleme diskutiert, als die Magazine der Republik das Thema noch auf die hinteren Seiten verbannt hatten. Im Frühjahr vergangenen Jahres wurden Politiker wie der frühere CDU-Forschungsminister Riesenhuber und Gewerkschafter wie IG-Medien-Chef Detlef Hensche in die Kirche eingeladen. Ihr Thema: „Zukunft der Arbeit, Arbeit der Zukunft“. Der Einfluß auf die Gemeinde blieb aber gering. Leider, sagt Stoodt bedauernd, sei daraus keine weiterführende, vertiefende Diskussion erfolgt.
Wenn Stoodt über sich selbst und seine Arbeit spricht, dann hört sich das an, als spräche da weniger ein Pfarrer als ein Sozialarbeiter: „Ein wichtiger Teil meiner Arbeit ist es, interreligiöse und interkulturelle Beziehungen herzustellen.“ Denn in einer Großstadt, sagt Stoodt, gebe „es nur noch sehr wenige Menschen mit einer kirchlich gebundenen Religiosität“. So hängen denn auch in seinem stets offenen Zimmer in der St.-Katharinen- Kirche Plakate, die für Veranstaltungen anderer Religionsgemeinschaften werben. Über 80 davon gibt es in Frankfurt, der Stadt mit dem höchsten Ausländeranteil in Deutschland.
Kontakt hält die Gemeinde unter anderem zur anglikanischen Kirche. Sechsmal im Jahr feiert die Gemeinde einen gemeinsamen Gottesdienst mit einer katholischen Nachbargemeinde, die von Jesuiten geleitet wird. Die Komplexität der Lebens- und Religionswelten kennt Pfarrer Dusse aus eigenere Erfahrung: Schwiegertochter und Schwiegersohn sind Moslems.
Wie in allen Kirchen, haben es auch Dusse und Stoodt schwer, junge Menschen zu gewinnen. Beide erteilen sogar Religionsunterricht an Schulen. „Seien wir doch ehrlich“, sagt Dusse am späten Abend in der Runde der Ehepaare, „wir sind doch fast wie in einer Diaspora.“ Dusse ist Realist genug, um die Lockungen der weltlichen Welt zu sehen: Da ist das Großstadtvergnügen, da sind aber auch die „zahlreichen Angebote auf dem religiösen Markt“, wie er ironisch anmerkt. Ein Gang durch einen der größten Buchläden reiche aus, um sich einen Überblick zu verschaffen, sagt Dusse: „Wie viele Menschen stehen vor den Regalen mit den Esoterik- Bänden.“
Der Bedarf nach Spiritualität, ja nach Religiosität sei durchaus vorhanden – nur die Kirche scheint ihn nicht mehr zu befriedigen. Immerhin hat Dusse an diesem Abend den Erwachsenen eine gute Nachricht mitzuteilen. Das Dekanat habe beschlossen, jemanden einzustellen, der sich ausschließlich um Jugendliche kümmern soll. Von religiösen Eiferern, die die Kinder auf den rechten Weg bringen wollen, halten die beiden Pfarrer nichts. Junge Menschen erreiche man „nur über die persönliche Schiene“, nicht über Fragen nach dem Glauben, hat Dusse festgestellt. Der Besuch des Kirchturms oder ein Ausflug, das seien Angebote, auf die Jugendliche eingingen.
Da ist zum Beispiel die Konfirmandengruppe, die an diesem Junitag den Weg in die St.-Katharinen-Kirche gefunden hat. Besonders freut es Dusse, daß ein junges Mädchen gekommen ist, die seinen Religionsunterricht an der Schule irgendwann nicht mehr besucht hat. Oder die beiden dunkelhaarigen Mädchen, deren Vater Moslem und deren Mutter Christin ist. „Das“, sagt Dusse, „ist doch wirklich toll.“
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