: Schier verrückt vom Eierlegen
Zwei deutsche Hühnerhalter, zwei Prinzipien: Der eine führt einen ökologischen Musterbetrieb, der andere pfercht 792.960 Stück Turbovieh ein ■ Von Manfred Kriener
Wer 4.000 Augenpaare auf einmal sieht, erschrickt. So viele? Ja, so viele. Jeder Schritt nach vorn löst im Hühnermeer eine leicht zeitverzögerte Welle aus, ein Wogen von braunen Hälsen, Kämmen, Schnäbeln. Kopf an Kopf sitzen sie am Boden, auf Kotbrettern und Stangen, suchen mit aufgeplustertem Gefieder die Wärme. Auch in der Uckermark, 20 Kilometer vor der polnischen Grenze, macht der Sommer gerade eine kleine Pause. Draußen tanzen noch die Gräserpollen, drinnen gibt's gemütlichen Stehblues. Es ist zehn Uhr. Die meisten Hühner haben ihr Ei schon gelegt. Jetzt dösen sie, und tun das, was der Fachmann „Legegackern“ nennt: Sie berichten von ihrer guten Tat. Hühner sind stolz auf ihre Eier. Und Hühner gackern nach dem Nestbesuch.
Die Eier sind längst auf dem Fließband gelandet, abgewogen, von gummierten Greifarmen der richtigen Gewichtsklasse zugeordnet, von schnellen Händen in Kartons sortiert. Vollautomatischer Nestraub. Aber die Eier schmecken wunderbar.
Nach dem Legen öffnen sich die Schläge im Hühnerstall. Ein überdachter Schlechtwetterauslauf bildet den Übergang zu fünf Hektar Wiese. Ein aufgeschütteter Wall mit Büschen sorgt für Schatten und Raubvogelschutz. Alles ist tiptop. Die ersten Hennen kommen neugierig angerannt, laufen zwischen unseren Füßen herum, picken an den Schuhen. Hühner lieben alles Glänzende, untersuchen es mit ihrem Schnabel. Frank Richters Hennen können richtig picken. Die Schnäbel der Belegschaft sind nicht kupiert wie auf anderen Hühnerfarmen, wo die Spitze aus Angst vor dem Kannibalismus im Kükenalter weggeätzt wird. Zur Demonstration fängt der 33jährige ein Huhn, öffnet den Schnabel und zeigt die rosagepunktete Innenansicht: feinziseliertes Nervengewebe. Der Schnabel ist das zentrale Werkzeug des Huhns, empfindliches Tast-, Freß- und Kommunikationsorgan.
Aber nicht nur die Schnäbel sind vorzeigbar. Die ganze Farm in dem winzigen brandenburgischen Nest Grimme, zwei Stunden nördlich von Berlin, ist so etwas wie ein Vorzeigebetrieb. Modern und rationell, aber artgerecht. Die Tier- Verhaltensforscher der Gesamthochschule Kassel, respektvoll Hühnerpäpste genannt, empfehlen ihn zur Ansicht und Nachahmung. Die bestmögliche Haltung von Legehennen in den Zeiten von Rinderwahnsinn und geklonten Lämmern, Preisverfall und Subventionsdschungel – hier kann sie besichtigt werden. Grimme ist tiefe Ostprovinz. Morsche Häuserruinen, aufgewühlte Straßen. Keine Frage: Das schönste Haus im Ort ist der Hühnerstall, ein Neubau aus Kiefernholz mit Satteldach und sogar Gardinen an den Fenstern.
Im mecklenburgischen Neubukow ist derlei nicht vorgesehen. In dem Städtchen zwischen Rostock und Wismar plant die „Mecklenburger Frischei GmbH und Co Farmanlagen KG“ eine Hühnerbatterie, die bald bezugsfertig sein wird. Geschäftsführer Gottfried Hanning sagt dazu „Kompaktanlage“: sechs Ställe nebeneinander, acht Etagen übereinander, mit „federfreundlichem Eurokäfig“, computergesteuerter Futterverteilung, hypermoderner Schwerkraftlüftung und Fäkalentsorgung auf Trockenkotbasis. Macht 59 Arbeitsplätze. Für 792.960 Stück Federvieh.
Exakt 505 Quadratzentimeter Platz soll jeder Henne zur Verfügung stehen. Das sind satte 55 Quadratzentimeter mehr als in der Euronorm vorgeschrieben, das ist fast ein ganzes Din-A-4-Blatt. Hanning ist von dieser Art Riesenkäfig überzeugt. Die Eier hätten weniger Salmonellen, sagt er. Und niemand könne nachweisen, daß Batteriehühner leiden oder Schmerzen haben. Lediglich „das Scharrverhalten ist unterdrückt und das Nestverhalten ist nicht da“. Mehr aber nicht. Ginge es dem Huhn schlecht, gäbe es eine „Legeleistungsdepression“. Die könne sich niemand leisten. Fast wortgleich hat einst Hühnerbaron Anton Pohlmann argumentiert, bevor der Menschen- und Tierquäler in den Oldenburger Knast gesteckt wurde. „Ich hasse Pohlmann, damit haben wir nichts zu tun“, sagt Hanning, und er glaubt es tatsächlich.
95 Prozent aller deutschen Legehennen leben im Käfig à la Hanning, vier Prozent in Bodenhaltung, ganze 0,9 Prozent im freien Auslauf wie bei Richter. Und dennoch: Auch in der Freilandhaltung sucht man die Idylle vergeblich. Das kleine Hühnervolk, das – von der rotbackig-rundlichen Bäuerin kommandiert, mit dem buntschillernden Hahn an der Spitze – gemächlichen Schritts um den Misthaufen flaniert, hat nur noch im Bilderbuch Platz. Als praktikables Tiermodell für die Eierproduktion ist es für immer verloren. Wer von Hühnern leben will, braucht heutzutage einige tausend Exemplare und einen durchrationalisierten, weitgehend automatisierten Betrieb wie bei Frank Richter in Grimme. Futter, Eier, Kot am Fließband, Lüftungsanlage. Die Masse macht's.
Und er braucht „Turbos“, wie auch Richter seine braune Schar nennt. Er meint damit, daß seine Hennen echte Hochleistungssportler sind, deren Organismus ganz auf das eine Ziel programmiert ist: Legen, legen, legen. Andere, robustere, natürlichere Hühner kann sich auch der ambitionierte Halter nicht leisten. „Dann würde das Ei schnell eine Mark kosten“, sagt er. Denn die anderen, die Sussex und New Hampshire, die Leghorn und Italiener, Rhodeländer und Barnevelder legen nicht mal halb so viele Eier wie die Hybriden: jene gezielt auf Legeleistung getrimmten Kreuzungen.
Also mußte sich Richter Turbos anschaffen: „Warren-Isa-Brown“ heißen sie, eine Vier-Linien-Kreuzung, die es hier im Freiland der Uckermark auf jährlich 250 Eier pro Tier bringt. Im Käfig würden sie sogar 300 Eier legen.
Solch erzüchtete Spitzenleistungen sind teuer erkauft. Die männlichen Tiere der Legehybriden werden wenige Stunden nach der Geburt aussortiert und vergast, anschließend zu Tierfutter verschreddert. Die weiblichen Tiere sind aggressiv und krankheitsanfällig. Auch Richter hat immer wieder Probleme mit dem Federpicken, vor allem im Winter, wenn seine Hühner nicht raus wollen. Auch er entdeckt manchmal ein totgehacktes Tier. Anfangs ist er heftig erschrocken, hat die Kadaver eingesandt und auf Krankheiten untersuchen lassen. Ohne Ergebnis. Die Hühner sind nicht krank, sie sind einfach verrückt vor lauter Eierlegen.
Ihr Leben ist kurz. Nach 15 Monaten werden sie „ausgestallt“, an den Großschlachter verkauft und durch unverbrauchte Hühner ersetzt. Für ausrangierte Legehennen, die als Suppenhuhn enden, zahlt der Markt nur Pfennige, die amtliche Statistik nennt Preise zwischen 0,40 und 0,65 Mark pro Tier. Zwei Zigaretten für ein Huhn. Alternative wäre eine zwei- oder dreijährige Haltung. Doch dann müßte die stressige Mauserperiode, in der die Tiere sechs bis acht Wochen lang kein einziges Ei legen, durchstanden werden. Das will sich der noch unerfahrene Bioland-Betrieb nicht zumuten.
Wenn einer Idealist ist wie Frank Richter und seine Frau Christiane Binsfeld, dann versucht er, den Zwängen des Marktes und den angezüchteten Macken der braunen Turbos möglichst viel authentisches Hühnerleben abzuringen. Die Tiere können sich bewegen, in der Einstreu scharren und staubbaden, um überflüssiges Gefiederfett zu binden und abzustoßen. Sie haben Auslauf, können Würmer und Käfer suchen, Gräser und Samen picken. Ihre Kotbretter, die sich mitten durch den Stall ziehen, sind einem Baum nachempfunden mit verschiedenen Kletterebenen. Tageslicht, Sonne und Jahreszeit sind im Stall präsent. Zum Legen gibt es leicht abgedunkelte Gemeinschaftsnester. Und mit der nächsten Gruppe, sagt Richter, werden auch einige Hähne eingestallt, die als Streitschlichter und Führungskraft für die Sozialstruktur des Hühnervolks wichtig sind. Darüber hinaus gilt: biologisches Futter, kein Import-Soja, keine Krankheitsprophylaxe, Arzneimittelorgien, künstliche Dotterfärbung, Hormon- und Enzymgaben.
Sind Frank Richters Hühner glücklich? Gottfried Hannings Hühner sind es nicht. Und der Frischei-Geschäftsführer selbst ist nicht nur unglücklich, sondern verbittert, will mit niemandem mehr reden. Seine Hühnerfarm, sagt Hanning, wurde ordnungsgemäß beantragt und genehmigt. Daß jetzt Politiker und Tierschützer „anfangen zu randalieren“, „viel Mist und Mumpitz verzapfen“, daß sich Leute, die „noch nie eine Henne gesehen haben, in Dinge einmischen, „von denen sie nichts verstehen“, das erzürnt den Eiermann, das sei, sagt er, „eine Frechheit hoch zehn“.
Hanning redet sich warm, ein Buhmann im Furor. Kleinlaut wird er nur, wenn es um die Hintermänner seiner Farm geht, die er nicht preisgeben will. Die Zeit vermutet den Springreiter Paul Schockemöhle als Teilhaber, Hanning widerspricht: Erlogen sei das alles. Die Hühnerfarm sei auch nicht die größte in Europa, sondern allenfalls die drittgrößte.
165 Schmähbriefe hat Hanning bisher bekommen und fein säuberlich in einem Ordner gesammelt. Je mehr Kritik auf ihn einprasselt, desto mehr fühlt er sich im Recht. Dazu liegen tote Hühner vor seiner Türe, in Protestresolutionen eingewickelt. Die Zeitung schreibt nur noch vom „Hühnerkrieg“, und im Landtag gibt es Aktuelle Stunden. Dort wedelt SPD-Mann Till Backhaus mit dem Tierschutzgesetz: „Wer ein Tier hält, betreut oder zu betreuen hat, muß das Tier seiner Art und seinen Bedürfnissen entsprechend ernähren, pflegen und verhaltensgerecht unterbringen.“ Für Backhaus ist die Hanning-Farm ein Verstoß gegen diese Vorschrift: „Wer hier von artgerechter Haltung spricht, den bezeichne ich als unanständig“, donnerte er in der Debatte.
Was die Legebatterie bedeutet, haben Tierverhaltensforscher detailliert untersucht: Reizarmut, kein Tageslicht, keine Jahreszeit, keine Sonne, kein Wurm, keine Einstreu, kein Platz zum Drehen und Strecken. Die Krallen sind wegen des Gitterbodens oft verwachsen, dazu kommen Ballengeschwüre, verpickte Kloaken, vergrößerte Kämme, hysterische Kopfschüttelbewegungen, Muskelschwäche, Skelettdeformationen, Kannibalismus.
In der Schweiz ist die Käfighaltung seit 1991 als Tierquälerei verboten. In Deutschland wird das Bundesverfassungsgericht noch in diesem Jahr über ihre Zulässigkeit entscheiden. Wunder sind nicht zu erwarten. In München wurde am Montag ein Verfahren gegen drei Aktivisten des Bundesverbandes der Tierversuchsgegner eingestellt: Sie hatten in Niedersachsen vier Hühner aus einem Superstall der „Frühstücksei GmbH“ gemopst. Weil sie die armen Kreaturen der Freiheit überließen und nicht behielten, galt die Tat nicht als Diebstahl; die Bestohlenen hatten wegen befürchteten Medienrummels ohnehin auf Strafantrag verzichtet.
Frank Richter bleibt mit seinem Musterbetrieb der Hahn im Korb. Kleiner Anfang der Versöhnung mit dem Huhn? „Die wenigen vorbildlichen Halter“, sagt Richter, „können nicht mehr tun, als zeigen, daß es auch anders geht.“
Derweil schwappt in seinem Stall die nächste Ola los.
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