: Eine Sahnetorte wartet auf Anschnitt
Die Bonner Abgeordneten lassen ihre für 225 Millionen Mark renovierten Büros in Berlin leerstehen ■ Von Barbara Bollwahn
„Nach uns die Sintflut“ – so könnte das Umzugsmotto der Bonner Politiker nach Berlin lauten. „Und Du solst in den Kasten thun allerley Thier von allem Fleisch. Von dem Vieh nach seiner Art. Von allerlay Gewürm auff Erden von den allen sol je ein Par zu Dir hineingehen. Das sie leben bleiben“, heißt es auf frühneuhochdeutsch in goldenen Lettern im großen Sitzungssaal des Hauses Wilhelmstraße 60.
Die Wilhelmstraße 60, einen Steinwurf vom Brandenburger Tor entfernt, ist eins von drei Gebäuden, die für mehr als 225 Millionen Mark für Bonner Abgeordnete hergerichtet wurden und seitdem wie eine Sahnetorte auf den Anschnitt warten. Keiner weiß so richtig, wann sie denn nun kommen, die Parlamentarier mit ihren Kuchengabeln. Der Ältestenrat hat entgegen zahlreicher Beteuerungen noch immer nicht darüber entschieden, wann der Bundestag seinen Sitz nach Berlin verlegen wird. Was bisher „fest“-steht, sind lediglich die Versicherungen von Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, daß am 23. Mai 1999 zur Wahl des Bundespräsidenten im umgebauten Reichstagsgebäude die erste parlamentarische Sitzung stattfinden werde.
Der Große Sitzungssaal setzt Staub an
Der prächtige Große Sitzungssaal mit dem Sintflut-Spruch in der Wilhelmstraße setzt derweil Staub an, und auch die „Digital Congress Work“-Sprechanlagen hinter schweren Holztüren wurden seit Fertigstellung des Hauses nur selten genutzt.
Im ehemaligen Ministerium für Volksbildung der DDR Unter den Linden fristen vier Sitzungssäle und 150 Abgeordnetenbüros ein ähnliches trauriges Dasein. Bisher haben nur wenige Bonner einen Klammeraffen in dem italienischen Spätrenaissancebau deponiert. Und dabei könnte die Arbeit jederzeit aufgenommen werden. Komplett eingerichtete Sekretariate mit Büromöbeln, an denen noch die Preisschilder hängen, warten darauf, daß jemand eine Filtertüte in die Kaffeemaschine steckt oder das Faxgerät mit Papier füttert. Nur die Topfpflanzen fehlen – und die Menschen, die Leben in die Bude bringen sollen.
In diesem Gebäude, das als zweites Bürohaus vom Deutschen Bundestag übernommen und für knapp 56 Millionen Mark saniert wurde, arbeitet bisher nur das Fußvolk. Die Chefs haben lediglich Schilder mit ihren Namen an der Tür. Im Raum Nummer 127 soll der Vorstand der PDS residieren, die Fraktionssprecherin der Grünen in 109, der parlamentarische Geschäftsführer der SPD in 228.
Während sowohl bei den Sozialdemokraten als auch bei den Grünen je sieben Fraktionsmitarbeiter die Berlinvorhut stellen, sind die Liberalen mit drei Mitarbeitern in der Hauptstadt präsent. Bei den Christdemokraten dagegen herrscht nach Auskunft einer Sekretärin „Totentanz: Hier steht alles leer“, tönt es einsam aus dem Telefon.
Davon können auch die Jungs von der Außenstelle des Fahrdienstes Bonn ein Lied singen. „Ich will gesunden Streß“, wünscht sich ein Fahrer, der derzeit unfreiwillig als Christel von der Post statt als Chauffeur für Bonner Parlamentarier fungiert, „weil keiner da ist“. So bleibe nichts anderes übrig, als „Briefe durch die Frankiermaschine zu jagen“. Wie das mit dem Umzug gehen soll, ist ihm ohnehin schleierhaft. „Auf einen Pfiff soll's dann losgehen, oder wie?“, fragt er schulterzuckend.
In dem vor wenigen Wochen fertiggestellten dritten Bürogebäude für den Bundestag, dem ehemaligen DDR-Ministerium für Außenhandel gegenüber der Russischen Botschaft, sieht es noch trostloser aus. Bei einem Rundgang durch das Haus im April sinnierte Bundesbauminister Klaus Töpfer noch über eine „mentale Veränderung“ bei den Bonner Parlamentariern. Jetzt herrscht allein ein Sicherheitsdienst über das für knapp 122 Millionen Mark sanierte Gebäude. Unter Bewachung stehen 450 Büroräume, deren Ausstattung sich noch auf Auslegware, Akteneinbauschränke, offene Steckdosen und die Hinterlassenschaften von Handwerkern beschränkt.
Eine zentrale Rufnummer ist bereits vergeben. Doch bis ein fleischlicher Pförtner in der komplett eingerichteten Loge sitzen wird, meldet sich die Polizeileitstelle. Fertig ist bisher nur der Innenhof, der ein „Ort der Ruhe, der Besinnung und der Meditation“ sein soll. Eine monumentale „Sonnenstrahl“-Skulptur inmitten eines noch kärglichen Birkenhains soll dem nüchternen Bürohaus „sinnliche Qualität“ verleihen.
Eine Kette von teuren Übergangslösungen
Bisher wissen die wenigsten der über 600 Bundestagsabgeordneten, wo ihr Schreibtisch in der Hauptstadt stehen wird. Fest steht nur, daß ein Großteil der bisher fertiggestellten 26.955 Quadratmeter Bürofläche in der Nähe des Brandenburger Tors bis zum „Tag X“ leerstehen wird. Werden die drei Gebäude dann irgendwann bezogen, wird auch das keine Bleibe auf Dauer sein.
Bis – wie geplant – Ende 1999 die Bundestagsneubauten Alsenblock und Dorotheenblock fertig sind, heißt es für die Parlamentarier, die sich dann Unter den Linden und in der Wilhelmstraße eingerichtet haben, noch zweimal die Koffer zu packen. Denn ab Frühjahr 1999 beansprucht der Deutsche Bundestag die drei bisher fertiggestellten Gebäude für seine Verwaltung. Die ist derzeit noch mit etwa 120 Mitarbeitern in Berlin vertreten. Für die wenigen Monate zwischen Frühjahr und Winter 1999 müssen neue Provisorien her.
Zur Debatte stehen drei bundeseigene Häuser in der Nähe des Reichstages: die ehemalige Generalstaatsanwaltschaft, das Polygraph-Haus und das frühere Justizministerium der DDR. Diese stehen teilrenoviert zur Zeit leer. Eine „vorläufige Herrichtung“ der drei Häuser würde 58 Millionen Mark kosten, eine vollständige Renovierung mehr als 200 Millionen Mark.
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