: Ärztefriede in Mecklenburg in Sicht
Die Krankenkassen nehmen die Ärzte wegen Überziehung des Arzneimittelbudgets in Regreß. Doch nach langem Streit wollen sich beide Konfliktparteien von heute an in Schwerin friedlich einig werden ■ Von Annette Rogalla
Berlin (taz) – Monatelang hatten sie miteinander gestritten. Gütetermine brachten nichts. Sogar einen Kurzstreik legten die Ärzte in Mecklenburg-Vorpommern ein. Heute nun wollen sie sich mit den Krankenkassen einigen. Der Konflikt um überhöhte Ausgaben im Arzneimitteletat soll ein Ende haben. Der Streit: Im Verordnungsrausch überschreiten die Ärzte seit Jahren deutlich die begrenzten Budgets. Seit Mai nehmen die Kassen die Mediziner in Regreß und überweisen ihnen monatlich fünf Millionen Mark weniger Honorare – ein bundesweit einmaliger Fall.
Allein für das Jahr 1995 fordern die Kassen in Mecklenburg-Vorpommern 87 Millionen Mark zurück. 1996 verschrieben sie Medikamente und Heilmittel für insgesamt 968 Millionen Mark. Dies seien mehr als 100 Millionen Mark zuviel gewesen, sagen die Kassen. Als Vergleich dienen den Kassen hierbei die durchschnittlichen Ausgaben für Arznei- und Heilmittel in den neuen Bundesländern. Die Rückzahlungsforderungen sollen bei allen eingetrieben werden, auch bei sparsamen Ärzten. Gegen dieses Ansinnen liefen in den vergangenen Wochen Mediziner zwischen Kap Arkona und Ludwigslust Sturm. Ihre Standesvertretung, die Kassenärztliche Vereinigung, sah schon jede vierte Praxis konkursreif. Etliche Ärzte antworteten auf die gekürzten Honoraranweisungen eigenwillig. Sie drohten, den Patienten notwendige Rezepte zu verweigern. Entsprechend empört reagierten die Patienten. Johannes Lack von der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) in Schwerin berichtet von Drohanrufen und Beschimpfungen durch die Versicherten.
Bei soviel Wut auf beiden Seiten schien eine Einigung unmöglich. Einen Schlichtungsversuch von Sozialminister Hinrich Kuesser (SPD) brachte die Kassenärztliche Vereinigung jedoch zum Scheitern, weil der Minister zu sehr auf der Seite der Kassen stehe.
Nach Wochen mühsamen Ringens scheint ein Kompromiß nun in Sicht. Bereits in der Nacht zum Dienstag berieten die Kontrahenten neun Stunden lang. Beide Seiten geben sich jetzt einig, daß die Kostenexplosion sozialverträglich zurückgefahren werden soll.
Die groben Linien scheinen klar: Die Kassen werden die Mehrausgaben nicht im Regreßverfahren zurückfordern. Im Gegenzug verpflichten sich die Ärzte, künftig nicht mehr zu verordnen als ihre Kollegen in den neuen Bundesländern. Rein rechnerisch geben die Ostkassen pro Mitglied derzeit durchschnittlich 516 Mark pro Jahr aus. Nach Auskunft von Hans- Otto Schurwanz, dem Verhandlungsführer der Kassen, lagen die Ärzte in Mecklenburg-Vorpommern 1996 mit 551 Mark deutlich darüber. Bis zum 30. Juni 1998 wollen sie den Durchschnittssatz nicht überziehen. Andernfalls, so Joachim Lehmann von der Kassenärztlichen Vereinigung, könne der einzelne Arzt zur Rückzahlung verpflichtet werden.
Zwar muß der Arzneimitteletat heute in Schwerin noch detailliert ausgehandelt werden. Kassenexperten gehen davon aus, daß er bei rund 800 Millionen Mark festgeschrieben werden wird. Eine solche Einigung, so AOK-Sprecher Lack, wäre ein „Erfolg, denn irgendwo muß man Lichtblicke haben“. Die Ärzte jedoch könnten sich als Gewinner des Kompromisses betrachten. Sie dürfen nicht mit einer Aufstockung des Ausgabevolumens rechnen, hätten aber auch keine Regreßforderungen zu fürchten. Die AOK würde mit diesem Kompromiß leben, so Lack: „Sonst laufen wir der Zukunft hinterher.“
Der sich abzeichnende Burgfriede zwischen Kassen und Ärzten beinhaltet zum Teil eine Neuregelung, die das Sozialgesetzbuch ohnehin vom 1. Juli an vorsieht. Die bis dahin geltende Arzneimittelbudgetierung hatte sich bundesweit als untaugliches Mittel zur Kostendämpfung erwiesen. Selbst Ärzte hatten daraufhin eine „Positivliste“ für preiswerte Medikamente gefordert. Doch Gesundheitsminister Horst Seehofer mochte sie wegen des Drucks der Pharmaindustrie nicht absegnen.
Vom Juli an sollen „Richtgrößen“ aus diesem Dilemma heraushelfen. Für Arznei- und Heilmittel soll es künftig keine starren Ausgabengrenzen mehr geben. Ärzte und Kassen vereinbaren dann erstmals, wieviel jede Arztgruppe für die Verschreibung von Arznei- und Heilmittel verordnen darf. Die Kassenärztlichen Vereinigungen wiederum handeln mit den jeweiligen Praxen ein Budget pro Patient aus. Dieser Wert stellt die Obergrenze dessen dar, was ein Arzt künftig im Krankheitsfall und Quartal an Arznei- und Heilmitteln verschreiben darf. So soll sich der Arzt besser vor einer Überschreitung des Budgets schützen können. Allerdings können im Gegensatz zum geltenden Gesetz die Ausgaben steigen, wenn die Krankheitsfälle zunehmen.
Die Kassen befürchten, daß Ärzte dann wieder unbeschwert zum Rezeptblock greifen werden. Möglichen Überschreitungen jedoch will die AOK mit Aufklärung begegnen. In Mecklenburg-Vorpommern gibt sie Medizinern bereits fachliche Nachhilfe im kostengünstigen Verschreiben.
Der Konflikt in Mecklenburg- Vorpommern mag heute entschärft werden. In anderen Bundesländern schwelt er noch. Mögliche Regreßforderungen haben auch Ärzte in Sachsen, Nordbaden, Thüringen, Niedersachsen, Südwürttemberg und in zwölf weiteren Kassenbezirken zu fürchten.
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