Wahlen um jeden Preis

■ Trotz wilden Schießereien, Krawallen, Chaos: In Albanien wird am Sonntag gewählt. Wenn nichts mehr hilft, soll wenigstens das Kreuz in der Urne dem Land neue Stabilität bringen. Aus Tirana Barbara Oertl

Wahlen um jeden Preis

Der Skanderberg-Platz im Zentrum der albanischen Hauptstadt Tirana ist von Polizei und Panzern umstellt. Hunderte von Menschen haben sich vor dem Kulturpalast versammelt, schwenken die albanische Fahne und Luftballons der Sozialistischen Partei Albaniens. Aus zwei großen Boxen dröhnen Volkslieder. Dann tritt der Parteichef der Sozialisten, Fatos Nano, ans Mikrophon. „Albanien ist in Gefahr. Die Zukunft des Landes liegt in euren Händen. Nur mit euch können wir uns aus den Klauen der Diktatur befreien. Wir werden euch das Geld wiedergeben, daß ihr verloren habt.“ Die Menge rast und skandiert rhythmisch: „Die Linke wird gewinnen, Sieg!“ und „Vlora, Vlora!“

Zwei Tage vor den vorgezogenen Parlamentswahlen in Albanien, bei der über 20 Parteien antreten, wird die Tonlage noch schärfer, bleibt die Stimmung explosiv. Noch am vergangenen Montag hatten die beiden größten Parteien, die „Demokraten“ von Staatspräsident Sali Berisha und die Sozialisten in Rom, ein Abkommen für die Zukunft Albaniens unterzeichnet. Darin verpflichten sich die Unterzeichner, die Standards eines korrekten politischen Dialogs einzuhalten und jegliche Gewalt zu vermeiden.

Am Abend desselben Tages jedoch ließ ein Auftritt von Berisha in Tirana nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig. „Ich werde nicht zulassen, daß die Sozialisten den Erfolg ihrer Mandatsgewinne auskosten, dies ist ein Versprechen. Ich werde das Lächeln auf ihren Gesichtern erfrieren lassen.“ Was die unabhängige Tageszeitung Koha Jone mit den Worten kommentierte: „Eigentlich sollte der Präsident ein Symbol der nationalen Einheit sein. Er ist jedoch der Grund für die tiefste Spaltung, die die albanische Nation jemals erlebt hat. Er ist derjenige, der das Land in einen Abgrund von Haß führt.“

Doch nicht nur verbal geht es zur Sache. Aus dem Süden werden täglich neue Anschläge, Überfälle und

Morde ge-

meldet. Noch am Donnerstag mußte Berisha einen Wahlkampfauftritt in Lushnja nach einer wilden Schießerei abbrechen und fliehen. Dort, wo derzeit alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht, sind die Menschen für den bevorstehenden Urnengang besonders gut gerüstet: In der Hauptsache mit Handgranaten und Kalaschnikows. Landesweit sollen unter den drei Millionen Albanern rund eine Million Waffen im Umlauf sein. Fast jede Familie besitzt eine eigene Knarre.

In Shela, ebenfalls im Süden, wurde vorgestern der Sitz der Demokratischen Partei mit einer Bombe in Schutt und Asche gelegt. In Tirana, wo in den vergangenen Tagen mehrere Polizisten bei Schießereien zum Teil schwer verletzt wurden, hat die Polizei jetzt die Anweisung, auf jeden zu schießen, der die Regeln der nächtlichen Ausgangssperre mißachtet. In die Hauptstadt darf nur noch, wer sich ausweisen

kann. An den

Zufahrts-

straßen

nach Tirana sind bereits am Donnerstag Panzer und Militärfahrzeuge aufgefahren, durch die Straßen patrouillieren Polizeibatallione, die am Wahltag noch verstärkt werden. Die Innenstadt ist morgen für den Verkehr gesperrt.

Trotz der chaotischen Verhältnisse, die eine Durchführung von freien und fairen Wahlen derzeit eher als frommen Wunsch erscheinen lassen, verbreitete Franz Vranitzki, OSZE-Abgesandter für Albanien, gestern erneut Optimismus. Die Vorbereitungen seien so gut wie abgeschlossen, und auch die letzten organisatorischen Probleme würden noch gelöst. Doch die sind beachtlich.

So müssen die OSZE Beobachter, die mittlerweile alle eingetroffen sind, zuallererst einmal selbst beobachtet und geschützt werden. Die 6.500 Mann der Multinationalen Friedenstruppe (MFP), mit einem Mandat bis August ausgestattet, eskortierten das OSZE-Personal gestern unter scharfen Sicherheitsvorkehrungen an ihre Einsatzorte. Sollten sie an ihrem Ziel ankommen, wird die Organisation morgen mit rund 500 Beobachtern in der Hälfte der 4.525 Wahllokale präsent sein.

Und noch bis zuletzt warteten die Albaner auf die Stimmzettel, die in Italien gedruckt werden. Gestern, einen Tag vor der Wahl, wurden sie endlich eingeflogen. Auch die Sendungen mit Spezialtinte, mit der die Wähler gekennzeichnet werden, um eine mehrfache Abstimmung zu verhindern, steht noch aus. Demgegenüber sind die Wahlurnen, ebenfalls made in Italy, in dem Balkanland eingetroffen. Nur, wie sollen sie verteilt werden? Zumindest die MFP hat eine Hilfe bei dem halsbrecherischen Unterfangen abgelehnt.

Angesichts dieses Durcheinanders erscheint es fast nebensächlich, daß zwei andere wichtige Fragen immer noch nicht geklärt sind. Bis jetzt weiß noch niemand, wie eigentlich das Wahlrecht aussehen soll. Fest steht bislang nur, daß von den 155 Parlamentssitzen 115 über das Mehrheitswahlrecht vergeben werden sollen. Die verbleibenden 40 Mandate werden nach dem Verhältniswahlrecht verteilt. Aber wie, das weiß niemand.

Mehr noch als das Wahlrecht beschäftigt die Politiker in Albanien derzeit aber die Frage, wie lange die Wahllokale geöffnet sein sollen. Die OSZE hatte mit Nachdruck gefordert, das Ende der Abstimmung vor Einbruch der Dunkelheit auf sechs Uhr abends festzulegen, um so potentielle Risiken möglichst gering zu halten. Jetzt muß sich das Verfassungsgericht mit der leidigen Frage befassen.

Dem sozialistischen Chef der parteiübergreifenden Interimsregierung, Bashkim Fino, platzte ob des andauernden Hickhacks schon mal vorsorglich der Kragen. Er werde die örtlichen Uhren um zwei Stunden vorstellen lassen, wenn keine andere Lösung gefunden werde. Derartige Manipulationen wären in Albanien nichts Neues. Bei den Parlamentswahlen vom Frühsommer vergangenen Jahres verfügte Staatspräsident Sali Berisha kurzerhand per Dekret, die Wahllokale zwei Stunden länger offen zu halten. Und das, nachdem der Urnengang schon begonnen hatte.

All diese Schwierigkeiten können die Albaner scheinbar nicht erschüttern. Jedesfalls ließen sich die Politiker nicht davon abbringen, für morgen noch eine zweite Abstimmung anzuberaumen: In einem Referendum soll über die Wiedereinführung der Monarchie abgestimmt werden. Der Thronanwärter und Sproß des letzten albanischen Königs, Leka Zog, ließ sich dieser Tage gern und ausgiebig beim Händeschütteln mit Botschaftern fotografieren. „Sollte ich das Referendum gewinnen, werde ich für öffentliche Ordnung, Frieden und Sicherheit sorgen“, versprach Zog seinen Untertanen.

„Ich bin für die Monarchie, sie wird unser Land stabilisieren“, sagt ein Mann. „Der König ist überparteilich, und er wird für das ganze Volk denken und sein Bestes geben.“

So läßt sich die albanische Wahl am Vorabend folgendermaßen beschreiben: Die Parteien tun so, als ob sie Wahlkampf machen, die OSZE tut so, als ob sie einen freien und fairen Urnengang garantieren könne, und die Menschen tun so, als ob sie die Abstimmung am Sonntag ernst nehmen und wirklich auf eine Besserung ihrer Lage hoffen.