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Die Gratwanderung Chinas in Hongkong

Wirtschaftliche Zuversicht und politische Sorgen um die Zukunft der Kronkolonie  ■ Aus Hongkong Sven Hansen

Deng Xiaopings Formel „Ein Land, zwei Systeme“ bildet die Grundlage für die Vereinigung Hongkongs mit China. Auf den ersten Blick ist die Formel genial. Doch politisch steckt sie voll Mängeln, und die bisherige Praxis gibt wenig Anlaß zur Beruhigung.

Als Deng vor knapp zwanzig Jahren diese Formel erfand, dachte er an das abtrünnige Taiwan unter der Herrschaft der autoritären Kuomintang und seiner kapitalistischen Wirtschaft. Diese unterschied sich stark von der Planwirtschaft Chinas, das gerade die Kulturrevolution beendet hatte. Die vorübergehende Beibehaltung zweier Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme schien der pragmatischste Weg für eine Vereinigung ohne große Brüche. Zwar gab es große politische Differenzen zwischen beiden Systemen, doch waren ihnen autoritäre Regierungen gemeinsam. Deng hatte vor allem die Ökonomie im Blick und den Wandel der chinesischen Wirtschaft im Hinterkopf.

Als die britische Regierung 1979 die Zukunft Hongkongs nach 1997 ansprach, übertrug Deng die Formel „Ein Land, zwei Systeme“ auf die Kronkolonie. Es war vorausschauend und vertrauenerweckend, daß Chinas Regierung nicht auf ihrem Recht der bedingungslosen Übernahme Hongkongs bestand. Das hätte zu Kapitalflucht und Massenauswanderung geführt und Hongkong wirtschaftlich ruiniert, woran Peking kein Interesse hatte.

China will die goldenen Eier der Gans einheimsen

Statt dessen wurde Hongkong die Beibehaltung seines Wirtschafts- und Gesellschaftssystem für 50 Jahre zugesagt. Die künftige Sonderverwaltungsregion soll sich außer auf dem Gebiet der Außen- und Verteidigungspolitik mit einem hohen Maß an Autonomie selbst regieren. Chinas Führung ist an Hongkongs Erfolg interessiert. Die Stadt ist Chinas Tor zur Welt, wichtigster Handelspartner und größter Investor. Das Argument der Optimisten lautet: Peking wird nicht die Gans schlachten, die ihr goldene Eier legt. China geht es darum, den Motor Hongkong gewinnbringend und ohne Machtgefährdung zu integrieren.

Die Anwendung der Dengschen Formel auf Hongkong gilt als Beweis dafür, daß Chinas Führung am Erfolg der Vereinigung interessiert ist und ihre Versprechen einhalten muß, um auch Taiwan von einer Vereinigung unter diesen Vorzeichen zu überzeugen. Doch die Regierung in Taipeh weist die Formel zurück, zumal sie an Attraktivität verloren hat, seit Peking auch die Möglichkeit einer gewaltsamen Vereinigung mit Raketen demonstriert hat.

Inzwischen sind Taiwan und Hongkong jedoch politisch pluralistischer und demokratischer geworden. Auch in China gibt es heute wesentlich mehr persönliche Freiheiten im Bereich der Wirtschaft und des Konsums, sie beschränken sich allerdings auch darauf. Niemand fürchtet, daß Hongkongs Wirtschaft nun sozialistisch wird. Vielmehr ist die angrenzende Provinz Guangdong bereits „hongkongisiert“ und Hongkong ein wirtschaftliches Modell für China.

Die Formel „Ein Land, zwei Systeme“ erinnert an die Anwendung der kommunistischen Einheitsfrontpolitik auf Territorien, die aufgrund der Machtverhältnisse nicht die Wahl haben, nein zu sagen oder sich für die Unabhängigkeit zu entscheiden. Die Politik der Einheitsfront ordnet Differenzen zwischen politischen und gesellschaftlichen Gruppen einem gemeinsamen Ziel unter, das in diesem Fall „nationale Einheit Chinas“ heißt. Historisch war der Pluralismus der Einheitsfront verschiedener Parteien und Organisationen meist nur begrenzt und von kurzer Dauer, da die kommunistischen Parteien ideologisch die Führung beanspruchten.

Auch im Falle der Vereinigung Hongkongs mit China hat die Volksrepublik ihren Führungsanspruch festgeschrieben. Außerdem legt Peking in der Praxis die Formel „Ein Land, zwei Systeme“ bisher jeweils zu seinen Gunsten aus.

Eingriffe in Hongkong rechtfertigt Peking mit dem Argument des einen Landes, also des ersten Teils der Dengschen Formel. Oder Chinas Führung behauptet, sie lasse die Stadt in Ruhe (zweiter Teil der Formel). Die Regierung in Peking warnt vor einer Herausforderung ihres Führungsanspruchs und der Einmischung Hongkongs in die Politik der Volksrepublik. In diesem Fall gilt also für Peking das Argument des einen Landes nicht. Die künftige Sonderverwaltungsregion soll in China politisch einflußlos bleiben.

Zunächst stärkt Hongkongs Rückkehr der chinesischen Führung den Rücken. Die Vereinigung ermöglicht, die Demütigung der Kolonialisierung wettzumachen. Die Führung kann sich als Hüterin von Patriotismus und Nationalismus darstellen und damit das ideologische Vakuum füllen, das mit der faktischen Abkehr vom Sozialismus entstand.

Doch was, wenn die Gans zu laut schnattert?

Peking hat versprochen, daß Hongkong künftig wirtschaftlich noch erfolgreicher sein wird als bisher. Sollte das jedoch nicht eintreffen, kann die chinesische Führung den Briten nicht mehr die Schuld zuschieben. Dann muß sie sich selbst ihrer Verantwortung stellen. Doch auch ein Erfolg Hongkongs ist für Chinas Regierung riskant. Sie kann ihn nur schwer für sich reklamieren, da sie versprochen hat, sich nicht in Hongkong einzumischen. Ein erfolgreiches Hongkong mit politischer Autonomie und persönlichen Freiheiten stellt aber eine Gefahr für den Machtanspruch der chinesischen Führung dar. Chinas Bevölkerung wird sich fragen, warum Hongkong mehr Freiheiten und mehr Wohlstand genießt als sie selbst.

Solange die gewaltsame Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung von 1989 nicht offiziell aufgearbeitet ist, kann eine Wiederholung ähnlicher Ereignisse nicht ausgeschlossen werden. 1989 hat gezeigt, daß Chinas Regierung notfalls auch die Gans mit den goldenen Eiern schlachten würde, wenn sie durch zu lautes Geschnatter herausgefordert wird. Nur eine Entwicklung zu mehr Pluralismus und Demokratie in China kann die Mängel der Formel „Ein Land, zwei Systeme“ aufheben. Bisher sind die wirtschaftlichen Argumente allein zu schwach, um Hongkong auch beruhigt in die politische Zukunft blicken zu lassen.

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