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■ Hongkong feiert die "Fusion von Kapitalismus und Kommunismus". Griesgrämig traten die Briten ihre Kronkolonie an China ab. Aus Hongkong Georg BlumeHeimkehr ins Mutterland

Heimkehr ins Mutterland

Um Mitternacht die Unfreiheit – unter diesem Motto trauert der Westen seit dem Null-Uhr-Schlag um Hongkong, seiner letzten großen Kolonie in Asien. Währenddessen wird heute in China aus Millionen Fernsehapparaten das neue Lied der Einheit erklingen: „Die Fünf-Sterne-Flagge weht im Wind, und unser Siegeslied ist laut und resonant. Wir singen für das Mutterland, das jetzt den Marsch zu Wohlstand, Reichtum und Stärke beginnt.“ So lauten die ersten Zeilen des für die Hongkong-Übergabe komponierten Propagandasongs „Mutterland“. Partei- und Staatschef Jiang Zemin wird das Lied am Dienstag abend vor 80.000 Zuschauern im Pekinger Arbeiterstadion anstimmen – und ein Fünftel der Weltbevölkerung wird am Bildschirm zuschauen. Wie viele mitsingen werden, weiß niemand.

Die Verlierer des Ereignisses stehen fest. Griesgrämig, ohne Selbstkritik, aber voller Anschuldigungen gegen die chinesische Führung führten sich die westlichen Politstars in Hongkong auf. Von Tony Blair bis Madeleine Albright, von Margaret Thatcher bis Henry Kissinger ahnten alle, das ein neues Zeitalter beginnt, in dem sie, die Sieger zweier Weltkriege und des Kalten Kriegs, nicht mehr alle Karten in der Hand haben. Da half auch nichts, daß Prinz Charles die Würde bewahrte und die „Unverwüstlichkeit“ der Hongkonger lobte.

China ist ab sofort nicht nur um 60 Milliarden US-Dollar Devisenreserven und „einen nächtlichen Anblick bezaubernder als New York oder San Francisco“ reicher (so der Poet Hu Shi im Jahr 1935). Die Übergabe Hongkongs symbolisiert vor allem den Machtgewinn einer Pekinger Führung, die über die dynamischste Volkswirtschaft der Welt regiert und keinen Tag vergehen läßt, an dem sie ihr neues Selbstbewußtsein nicht prahlerisch kundtut.

Welche Stadt auf der Welt aber ist stolzer, hochmütiger und arroganter als eben Hongkong, „Perle des Orient“, „Zitadelle des Kapitalismus“, „Stadt der Überlebenden“, in der außer Reichtum bisher nichts zählte? Genau das wollten die alten Kolonialherren nicht zugeben: Mutter und Kind passen zueinander. Die extravagante Abschiedsfeier der englischen Kolonialherren – da gab es in Mikrochipgewand verhüllte Tänzer und orientalische Modeshows – konnte nicht verdecken, wer auch bei den gestrigen Festivitäten hinter den Kulissen der Wolkenkratzer die Fäden zog, wer Hongkong gestern beherrschte und auch heute dominiert: Leute wie James Tien.

Ein Mann mit goldener Nickelbrille, an den besten Universitäten Englands geschult, Vorstandsvorsitzender des Textilkonzerns Manhattan Garments und als Gastgeber die chinesische Eleganz in Person. Doch Tsien feierte gestern nicht die „Kombination von politischer und wirtschaftlicher Freiheit“, die Ex- Gouverneur Chris Patten in seiner Abschiedsrede am Hafen pries, sondern „die Fusion zwischen Kapitalismus und Kommunismus“. „Die Demokratie ist nur ein Weg, unseren Lebensstil zu bewahren“, orakelte Tien im kleinen Journalistenkreis. Dabei repräsentierte der Chef der Hongkonger Handelskammer 4.200 Unternehmen, darunter die Elite der in Hongkong ansässigen westlichen Konzerne. Ihr Wort auf Tiens Lippen.

Beleidigt vollzogen die alliierten Politiker den Rückzug. Die US-amerikanischen Außenministerin Madeleine Albright sprach von „keinem guten Neubeginn“, weil die chinesische Volksarmee schon an diesem Morgen in Hongkong einrücken sollte. Chris Patten weinte während seines Abschieds. Klaus Kinkel, deutscher Außenminister, konnte sich bis gestern nachmittag nicht entscheiden, ob er an der Vereidigung des neuen, nicht demokratisch gewählten Hongkonger Legislativrats nach Mitternacht teilnehmen oder dem von Albright erst angekündigten und dann durch die Teilnahme des amerikanischen Konsuls wieder aufgehobenen US-Boykott der Veranstaltung folgen sollte. Unter dem Motto „Nicht spekulieren, sondern abwarten“ entschied sich Kinkel dann doch, den Chinesen seine Aufwartung zu erweisen.

Entschiedener ging da Chinas Partei- und Staatschef Jiang Zemin zur Sache. Vollmundig versprach er den Hongkongern die „Sicherung ihrer Rechte und Freiheiten“, bevor er den Fuß erstmals auf den Boden der nun reichsten Stadt seines Landes setzte. Jiang schwelgte in solcher Zuversicht, daß er Zeitungsberichten zufolge den für ihn zukunftsentscheidenen 15. Kongreß der Kommunistischen Partei Chinas auf den 21. September vorverlegen ließ.

„Geschichte wird gemacht“, titelte die liberale Tageszeitung South China Morning Post. Besonderen Eindruck auf die 6,3 Millionen Betroffenen schien das Hongkong-Theater der größeren und kleineren Mächte jedoch nicht zu machen. Ohnehin waren die Hongkonger den Rummel um die Übergabe satt. In der vielgelobten Dienstleistungsmetropole wurden Touristen und Journalisten in den letzten Tagen so freundlich behandelt wie in Paris oder Florenz zur Hochsaison. Um irgendwelche Auskünfte bat man lieber nicht. Dabei befanden sich kaum mehr als 150.000 Gäste in der Stadt – genug, um gerade zwei Fußballstadien zu füllen.

„Ein so lange antizipiertes, potentiell lebensveränderndes Ereignis kann unter dem Eindruck umfassender Medienpräsenz mehr Hilflosigkeit und Langeweile als Aufregung und Begeisterung erzeugen“, erklärte der aus Australien eingewanderte Kolumnist Jason Gagliardi die gereizte Stimmung in der Stadt. Hinzu kamen gestern lausiges Regenwetter und eine gesicherte Fernsehübertragung aller Ereignisse. Warum also noch auf der Straße feiern? Hongkong ist schließlich nicht Rio.

Doch wer nicht gleich vor Freude in die Luft sprang, mußte deshalb nicht verbittert oder pessimistisch sein. „Ich bleibe während der Übergabe neutral und gehe einkaufen“, erklärte die Modedesign-Studentin Genie Wong, 21, während sie am Hongkonger Hafen die prachtvolle Illuminierung einer gigantischen Drachenfigur bestaunte. Gleichzeitig freute sich die junge Frau über die Feiertagsangebote in ihrer Lieblingsboutique „Green Peace“, die derzeit einen Namensrechtsstreit mit der gleichnamigen Umweltorganisation austrägt. Genie – im lila Trägerhemd und Edwin-Jeans – war sich der politischen Lage dennoch bewußt: „Ich habe die Ereignisse auf dem Tiananmen-Platz 1989 im Fernsehen verfolgt und war damals sehr traurig. Aber jetzt ist nicht die Zeit, darüber zu reden. Ich bin schließlich stolz, Chinesin zu sein“, sagte Genie und zeigte auf das bunte Drachenmonster. „Wissen Sie, daß alle Chinesen gerne dem Drachen folgen?“ Den Eindruck einer chinesischen Einheitsidylle fernab der Großveranstaltungen hatten schon die Volksfeste am Wochenende erweckt. Stadtteilverwaltungen und Kleinhändlervereine luden Familien und Kinder ihrer Nachbarschaft zu Spiel und Musik unter der roten Flagge. „Ich sehe das erste Mal die chinesische Fahne über unserem Sportplatz wehen“, beobachtete der Telekom-Arbeiter Peter Tsang, 42, auf dem Weg zum nachbarschaftlichen Übergabe-Fest in einem Hongkonger Außenbezirk. Dort saßen neben einem in Weihrauch gehüllten Steintempel drei alte Frauen unter einer Akazie und schauten dem Treiben der Kinder auf dem Sportplatz zu. Sie seien als Bäuerinnen in Hongkong geboren und würden als solche hier sterben, erklärten die drei. Ihre Aufgabe sei es nun, sich um die Enkelkinder zu kümmern, weil die Kinder im Büro arbeiten müßten. „Von China erwarten wir, daß es keinen Krieg mehr gibt, denn die Jahre unter der japanischen Besatzung waren unsere schlimmsten“, sagte eine der Frauen. Gerade so, als hätte sie die Präsenz der Engländer in Hongkong ihr Leben lang ignoriert. Es war wohl noch nie so leicht wie heute, Hongkong mit einer kosmopolitischen Metropole zu verwechseln, die es in Wirklichkeit immer noch nicht ist: 97 Prozent der Stadtbewohner sind chinesischer Abstammung.

Die dreieinhalb Millionen von ihnen, die einen britischen Paß besitzen, fühlen sich deshalb nicht dem Westen zugehörig. Von Weltoffenheit redeten während der letzten Tage Topmanager wie James Tien und sein Freund, der Reeder Chee-Chen Tung: „Wir sind die kosmopolitischste Stadt in Asien“, sagte Tung, der einst am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston studierte und viele Verbindungen nach Amerika unterhält.

Seiner Loyalität gegenüber Peking tut das keinen Abbruch: Er und Tien gehören beide dem demokratisch nicht legitimierten Legislativrat an, den Präsident Jiang Zemin heute in den frühen Morgenstunden vereidigen sollte.

Immerhin: Gegen Tien, Tung und ihren Verrat an der Demokratie, aber auch für das Ende des Kolonialismus und den Abzug der Engländer wollte die demokratische Elite Hongkongs heute morgen vor dem entmachteten Legislativrat demonstrieren. Der Führer der Demokratischen Partei, Martin Lee, plante, vom Balkon des Parlamentsgebäudes eine „Erklärung über Freiheit und Demokratie“ zu verlesen. Nur einige hundert Demonstranten wurden erwartet. Die Modedesignstudentin Genie Wong wollte sich bis dahin vor dem Fernseher niedergelassen haben: Auf ihre Generation aber kommt es in Zukunft an. Vielleicht ist ja der Zeitpunkt näher als man ahnt, an dem die Hongkonger Jugend erneut zur Abstimmung auf der Straße aufgefordert ist. Keine westlichen Politiker können dann noch helfen, nur die Erinnerung an 1989: Damals demonstrierten eine Million Menschen in der Stadt gegen die Diktatur in Peking. Dafür war jetzt nicht der Zeitpunkt, würde Genie sagen.

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