: Krebsursache politisch erforscht
Krümmel und Leukämie: Internationaler Wissenschaftler-Kongreß streitet über den Zusammenhang von AKWs und Blutkrebs ■ Von Heike Haarhoff
Wissenschaftler des internationalen Kongresses „Molekularbiologie“haben gestern in Hamburg das Atomkraftwerk Krümmel als mögliche Ursache für die gehäuften kindlichen Leukämien in der Elbmarsch ausgeschlossen. „Krümmel ist nie Thema für Leukämie gewesen. Es ist zum Leukämie-Thema gemacht worden, aus rein politischem Interesse“, rief Kongreßleiter Rolf Neth, pensionierter Professor des Universitäts-Krankenhaus Eppendorf, erregt.
Zwar kenne man die Ursachen für die Entstehung von Blutkrebs bis heute nicht – „die sind multifaktorell und müssen noch erforscht werden“. Doch sei wissenschaftlich gesichert, so Neth, „daß es Strahlung nicht ist“. Der Hämatologe untermauert seine Behauptung mit einer Tschernobyl-Studie des Münchner Physikers Albrecht Kellerer. Dieser hat zusammen mit russischen Ärzten die Entwicklung der kindlichen Leukämien in Weißrußland zwischen 1982 und 1994 untersucht, also vor und nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl im April 1986. „Nach der Katastrophe fand sich keine Zunahme der kindlichen Leukämien“, referierte Neth. Und: Es bestünden „keine Unterschiede in der Häufigkeit der Leukämien zwischen kontaminierten und nicht-kontaminierten (verseuchten, d. Red.) Zonen“. Deswegen sei radioaktive Strahlung auch in der Elbmarsch als Krankheitsursache auszuschließen.
Wieviele Personen in welchem Abstand zum Tschernobyl-Reaktor wie untersucht und wieviele Leukämien diagnostiziert wurden, vermochte Neth nicht zu sagen. Auch über Studiendesign oder Strahlendosis, der die weißrussische Bevölkerung ausgesetzt war, konnte er keine Angabe machen. „Kommen Sie doch am Samstag, da ist Herr Kellerer in Hamburg“, riet Neth der ratlosen Presse.
Die Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs reagierte gestern mit Empörung. Der Hamburger Kongreß solle „erkennbar dazu dienen, die Folgen der zivilen Nutzung der Atomenergie gesundzubeten“. Kellerer und Neth ignorierten „einschlägige Literatur“. Blutkrebs könne sehr wohl durch Bestrahlung ausgelöst werden. Dies belegten auch „international renommierte Studien“bei den Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki.
Auch der Arzt und Epidemiologe Wolfgang Hoffmann vom Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin (BIPS) bezweifelt diese „neuen Erkenntnisse“. „Wenn es in Weißrußland nach Tschernobyl keine Leukämie-Erhöhungen gäbe, wäre das ein sehr seltsamer Befund“, sagte Hoffmann gestern der taz. Er gehe davon aus, „daß die Datenquelle, die man für eine solche Aussage benötigt, unvollständig war“. Kellerer und seinen Wissenschaftskollegen unterstellt Hoffmann, daß „sie einfach nicht alle Erkrankungen erfaßt haben“. Für eine seriöse Datenbasis hätten alle weißrussischen Krankenhäuser befragt werden müssen. „Das wurde nicht gemacht“, kritisiert Hoffmann.
Zudem seien viele kindliche Leukämien gar nicht als solche diagnostiziert worden: „Kinder, die Leukämie haben, sterben binnen weniger Monate – an Hirnblutung, Anämie oder Infektionen“, weiß der Arzt. Oftmals werde lediglich diese Todesursache festgestellt, nicht aber die Krankheit, die sich dahinter verberge.
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