■ Nachschlag: "Untergang der Titanic" als szenische Folge im Wasserspeicher
Im feuchtkühlen Halbdunkel steht einer mit rotgrünen Positionslämpchen in beiden Händen und verkündet düster: „Vorsicht, Stufe!“ So beginnt der Untergang der Titanic im Prenzlberger Wasserspeicher. Was ist schon eine Schiffshavarie gegen ein Stolpern auf der Schwelle? Das jedoch ist die einzige Katastrophe, die an diesem Abend verhindert werden kann.
Vier Wasserleichen treffen in der Produktion des Xpress-Theaters aufeinander, Gespenster von Besatzungsmitgliedern und Passagieren der untergegangenen Titanic: der Kapitän, der Chefingenieur, die Lady und die Eisprinzessin. Im Programmheft werden ihnen eindrucksvolle Biographien mitgegeben. Solcherweise der lästigen Pflicht der Figurenentwicklung enthoben, beschäftigen sich die vier Darsteller neunzig Minuten lang mit anderen Dingen. Sie ergehen sich in affektierten Bewegungen, führen wollüstige Akrobatik vor und sprechen bedeutungsvoll über die Problematik von Zeit und Richtung. Die Frage wird aufgeworfen, ob nicht die Liebe dem Tode ähnlich sei und das Feuer dem Eis sowie der Himmel der Erde, jedenfalls wenn das Schiff sich umdreht. Des weiteren werden tremolierend Auszüge aus der Passagierliste der historischen Titanic verlesen. Zur Auflockerung gibt es Kalauer vom Kaliber „Eis im Schiff, alles im Griff“, auch spielt der ähnliche Klang der Worte „sinken“ und „singen“ eine nicht unerhebliche Rolle. Im übrigen geht man kreativ mit Raum um: In einer Ecke schmilzt ein Hügel Eiswürfel, das Publikum steht im Dunkeln und kriegt langsam nasse Füße.
Das alles ist Zombie-Theater der manieriertesten Sorte, eine Geisterfahrt in die Abgründe des Zuspätavantgardismus, und kein Rettungsboot in Sicht. Sollte es in den nächsten drei Wochen, in denen diese Produktion gespielt wird, doch noch unerträglich heiß werden, so ist der gleichmäßig neun Grad kühle Wasserspeicher sicher ein angenehmer Aufenthaltsort. Auch Heuschnupfenpatienten finden hier für anderthalb Stunden Linderung ihres Leidens. Man suche sich gleich zu Anfang der Vorstellung ein ruhiges Plätzchen auf dem Mauerwerk, fern vom Geschehen, bleibe ruhig dort sitzen und fürchte nicht, irgend etwas zu verpassen. Michael Mans
Bis 3. August, Di.–So., 21 Uhr, Diedenhofer Straße
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