: Langsam währt am längsten
■ Der Kapitalismus muß dringend entschleunigt werden, befindet Fritz Reheis
Schneller lernen, schneller leben, schneller verwesen. In Japan habe das Erziehungsministerium Computerprogramme für Kinder ab dem 30. Lebensmonat entwickeln lassen; in Deutschland habe ein Unternehmen mittels seines „Beton-Grabkammer-Systems“ die „Ruhezeit“ von Leichnamen von 20 auf 10 Jahre verkürzt. So Autor Fritz Reheis im Vorwort zu seinem Buch „Die Kreativität der Langsamkeit“. „Beschleunigung und daraus folgende Entrhythmisierung – das gehört zu den zentralsten Kennzeichen aller ,modernen‘ Gesellschaften“, schreibt er. „Nachtruhe, Wochenende und Feiertage fallen nach und nach dem Beschleunigungszwang zum Opfer, Ernährung und Urlaubsgestaltung haben sich längst von den Jahreszeiten unabhängig gemacht.“ Das alles tue gar nicht gut, befindet Reheis und zählt auf den ersten 30 Seiten diverse „Alarmsignale“ auf: „Kranke Menschen, zerfallende Gesellschaften, versiegende Natur“. Der Norden produziere „zu viele Sachen“, der Süden „zu viele Menschen“.
Zum Glück ist dieser Buchabschnitt nur alarmistisches Vorgeklingel zu dem weitaus interessanteren Hauptteil. Darin versucht sich der Autor in einer originellen Synthese zwischen zeitökologisch angereicherter Systemtheorie und marxistischer Kapitalismuskritik. Die Sonne sei „letztlich Rhythmusgeber für die Natur, die Natur ist letztlich Rhythmusgeber für die Kultur, und die Kultur ist letztlich Rhythmusgeber für das Individuum“. Das Geheimnis der evolutionären Lernprozesse und der Kreativität bestehe darin, daß die drei Systeme Natur, Individuum und Kultur/Gesellschaft genügend Zeit hätten, mit all ihren Möglichkeiten zu spielen. Die Natur speichere ihre „Vernunft“ in physikalischen und biologischen Naturgesetzen, die Kultur/Gesellschaft in Technologien und Institutionen, das Individuum in genetischen und sozialen Verhaltensdispositionen. Der globalisierte Kapitalismus sei nun jedoch dabei, dieses gesamte materiell-zeitliche „Wissens“-Gefüge zu zerstören. In Jahrmillionen entstandene Rohstoffe würden ersatzlos verbraucht; lebende Organismen würden mit unerforschten Stoffen und fremdartigen Reizen bombardiert, ohne jede Chance, sich darauf einstellen zu können. Die Beschleunigung von Produktion und Konsum mache „den Körper geradezu zum Endlager für fremde Stoffe, die Psyche zum Endlager für fremde Motive“.
Weitere Folge: Auf dem Weltmarkt werden die Reichen auf Kosten der Armen immer reicher und die Schnellen auf Kosten der Langsamen immer schneller. Man möge sich dran erinnern, wie nach dem Untergang des realsozialistischen Gangs in der DDR Abstrusitäten wie das „Verkehrswegebeschleunigungsgesetz“ entstanden.
Wie also verlangsamen wir den rasenden Zug? Mit Kräftehaushalten, sagt Reheis und zählt Beispiele für nachhaltiges Wirtschaften auf. Ein Erdöllager sollte nicht schneller ausgebeutet werden, „als man Sonnenkollektoren mit derselben Kapazität installiert, wobei diese Kollektoren aus den Erdölerträgen zu finanzieren sind“.
Sympathischerweise gehört der Autor nicht zu jenen, die seit dem weltweiten Sieg des Kapitalismus über jenen nicht mehr hinauszudenken wagen. Neugierig und ohne jede Berührungsscheu klopft Reheis verschiedene „linke“ Wirtschaftsmodelle ab, ob sie die entfesselte Produktion zähmen und den Globus wieder lebenswert machen könnten. So die von E.F. Schumacher („Small is beautiful“) entworfene und von Jeremy Rifkin weiterentwickelte „Dualwirtschaft“, in der nicht profitorientierte Fremdarbeit wieder in Eigenarbeit zurückverwandelt wird. Oder eine Marktwirtschaft ohne Zinsen, wie sie der Finanzminister der bayrischen Räterepublik, Sivio Gesell, 1919 entwarf. Oder auch demokratischere Varianten der Planwirtschaft. Der Frage, wie man dahin kommt, weicht Reheis allerdings aus. Dafür aber ist sein Ausklang ein zärtlicher Wohlgesang in den Ohren aller Hedonisten: „Während die fortwährende Beschleunigung unserem Leben einen fremden Zeitrhythmus aufzwingt und so die Rhythmik der lebendigen Welt letztlich immer schneller von der Rhythmuslosigkeit der toten Welt überwältigt wird, führt die Entschleunigung... zu mehr Leben und mehr Lust... Die entschleunigte Gesellschaft wird eine Gesellschaft der Muße und der Faulheit sein, verstanden als ,kluge Lust‘.“ Ute Scheub
Fritz Reheis, „Die Kreativität der Langsamkeit“. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1997, 258 Seiten, 29,90 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen