: Die Dinge beißen zurück
Der amerikanische Wissenschaftler Edward Tenner über die Tücken der Technik: Neue Technologien funktionieren erst dann richtig, wenn sie mindestens einmal schiefgelaufen sind ■ Von Manfred Kriener
Die Fachkraft in der Amerika- Gedenk-Bibliothek ist bockig, der Benutzer genervt. Sie wedelt triumphierend mit dem Computer- ausdruck, er schwört kleinlaut heilige Eide. Auf dem Ausdruck steht schwarz auf weiß, daß der Leser mit der Kartennummer X11 11026501 das Buch „Death, Destruction, Detroit“ ausgeliehen hat und es längst hätte zurückgeben müssen. Doch der Benutzer hat das Buch nie gelesen oder auch nur in der Hand gehalten, er kennt es überhaupt nicht. Sein bißchen Gewißheit steht gegen Computers Allmacht auf verlorenem Posten. Am Ende helfen weder Schwüre noch Geschrei: „Sie haben das Buch, und wenn Sie es nicht finden, müssen Sie es bezahlen“. Computerirrtum? Gibt's nicht! Macht 14 Mark für die überschrittene Frist und 40 Mark für das verschwundene Buch.
Wer schon einmal – wie der Autor – solch eine Situation erlebt hat, der weiß wie hilflos und rasend einen die Segnungen der Technik machen können. Oder würde Ihnen der Bankangestellte glauben, daß der Geldautomat einen Hunderter zu wenig ausbezahlt hat? Vertraut Ihnen die U-Bahn-Angestellte, wenn Sie monieren, daß der Fahrkartenapparat das Wechselgeld verschluckt?
Der amerikanische Technikforscher Edward Tenner hat Hunderte von Beispielen über die Tücken der Technik gesammelt. Der Originaltitel seines Buches heißt vielsagend: „Die Dinge beißen zurück“. Mit dem galoppierenden Fortschritt wuchs zwar die Illusion der Herrschaft des Menschen über die Dinge. Doch Tenners Sammlung beweist das Gegenteil. Maschinen sind widerspenstig, Computer können irren, und mit der Erfindung des „papierlosen Büros“ explodierte der Papierverbrauch erst richtig.
Es geht nicht nur um Büchsenöffner und Reißverschlüsse, die sich gegen uns verschworen haben. Es geht Tenner auch um den großen Fortschritt, um Antibiotika, Autos, Atomkraftwerke, um die Errungenschaften der Medizin, der Kommunikation oder der Energieversorgung. Und es geht um die Katastrophe. Die Dinge, sagt Tenner, laufen erst dann richtig, wenn sie mindestens einmal schiefgelaufen sind. Erst nach dem Untergang der Titanic wurden die Eisberge überwacht. Erst die Smogtoten von London sorgten für die Stillegung alter Kohleöfen. Erst Ozonloch und Hautkrebs führten zum Verbot von FCKW. Menschlicher Fortschritt wächst mit den Niederlagen.
Natürlich darf auch Edward Murphy nicht fehlen, der Ingenieur der Airforce mit seinem berühmten, immer wieder falsch zitierten Gesetz: „Wenn es mehrere Möglichkeiten gibt, eine Sache zu tun, und eine dieser Möglichkeiten endet in der Katastrophe, dann wird es auch jemand auf diese Weise tun.“ Kurz: Wenn etwas schiefgehen kann, dann wird es auch schiefgehen. Murphy hat tausendmal recht gehabt.
In Tschernobyl und Harrisburg flog der Zukunftsentwurf der Energieversorgung in Stücke, die pulverisierte Raumfähre Challenger holte abgehobene Nasa-Astronomen zurück auf den Boden. In Bhopal und Seveso erlebte die Chemieindustrie ihr Trauma. Doch Tenner, immer von der Angst umgetrieben, als „Grüner“ identifiziert zu werden, schenkt diesen historischen Katastrophen erstaunlich wenig Aufmerksamkeit. Viel lieber kümmert er sich um Waldbrände und Hurrikane, um den medizinischen Fortschritt und seine Tücken, sogar um die rasante Entwicklung des Sports.
Seine Lieblingsvokabel heißt „Rache-Effekt“. Er sucht hinter jedem Stück Technik die Kehrseite, die „Rache des Fortschritts“. Die Beispiele sind kunterbunt zusammengewürfelt, ein kaum systematisierter Gemischtwarenladen für Pleiten, Pech und Pannen. Es geht um ausdünstende Teppichböden, verstopfte Schnellstraßen, fehlerhafte Operationstechniken, hohe Schornsteine, leckende Tanker, um Bürostühle, Sonnencremes und Küstenerosion, um Golfausrüstungen, Skischuhe und von Muscheln verstopfte Kraftwerksrohre. Und immer um Rache:
Da sind die Patriot-Raketen, mit denen die USA die auf Israel gerichteten Scud-Geschosse Saddam Husseins abwehren wollten. Doch die in 5.000 Meter Höhe getroffenen Scuds verwandelten sich in tausend gefährliche Trümmer, die wie eine monströse Schrotladung auf die Erde prasselten und so viel mehr Schaden anrichteten. Da sind die Aufzüge und Rolltreppen, die uns das Leben erleichtern sollen. Doch sie machen uns zu bewegungsarmen Sklaven, die abends im Fitneßstudio für 20 Mark die Stunde simulierte Treppen besteigen. Da ist die moderne Medizin, die Krankheiten immer wirkungsvoller bekämpft. Als Folge werden die Menschen älter und damit logischerweise immer kränker.
Vieles, was Tenner mit terminologischem Gerassel als „Rache-Effekt“ aufzählt, könnte auch ganz anders bezeichnet werden. Daß es keinen ungebrochenen Fortschritt gibt und jede Medaille zwei Seiten hat, ist schlichte Volksweisheit. Hegels Dialektik wäre ebenfalls aktuell.
Wenn es um die „Rache der Natur“ geht, wenn Tenner durchaus amüsant beschreibt, welches Desaster etwa die „Einbürgerung“ von Spatzen, Staren, Karpfen, Seidenraupen oder afrikanischen Honigbienen in Nordamerika verursacht hat, oder was DDT und die Pestizidorgien angerichtet haben, dann ist der Begriff „Rache“ eher irreführend. Hier geht es nicht um Rache, sondern um Vernetzungen, um Ökologie, kurzsichtiges Denken, Rücksichtslosigkeit, Ideologie und nicht selten um Profit. Solche Begriffe sind indes nicht Tenners Welt. Seine Botschaft bleibt denn auch brav und bieder: Der technische Fortschritt, rät er, sollte maßvoll und vorsichtig umgesetzt werden. Wir danken für diesen wichtigen Ratschlag.
Gelungen sind die historischen Ausflüge. Was er über den Zustand der Straßen zur Zeit der Pferdefuhrwerke schreibt, über die Verbreitung von Schädlingen, Pflanzen und Tieren liest sich spannend. Doch dem Buch fehlt die Systematik und eine thematische Begrenzung. Und ihm fehlt jedes politische Bewußtsein. Um es mit Edward Tenner zu sagen: Hier zeigt sich ein Rache-Effekt seiner Angst, als Maschinenstürmer abgestempelt zu werden.
Edward Tenner: „Die Tücken der Technik“. S. Fischer Verlag, Frankfurt 1997, 448 S., 49,80 DM
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