■ Nebensachen aus Paris: Die „Piratenwächter“
Es war der erste Tag der großen Sommerferien. In der Charterhalle des Pariser Flughafens Orly drängelten sich Hunderte von Großfamilien. Junge Frauen trugen Babies auf Rücken und Armen, und schwitzende Männer wuchteten Koffer in der Größe von Kleiderschränken zu der Abfertigung ihrer Flüge nach Dakar, Monastir und Bamako.
Plötzlich ging ein Ruck durch die Menge und die Schieberichtung änderte sich. Statt nach vorn, ging nun alles nach hinten. Warum das geschah, war höchsten für einige in den ersten Reihen zu erkennen. Als dann der ohrenbetäubende Knall in unserer Charterhalle ertönte, riefen die Kinder: „Ach, eine Bombe“, und schoben sich wieder nach vorn. Schließlich bestätigte mir eine Flughafenangestellte, daß der kleine Roboter der Sprengstoffexperten wieder einmal ein unbegleitetes Gepäckstück „neutralisiert“ hatte.
Daran haben wir uns gewöhnt. Schließlich läuft der Plan „Vigipirate“ – Piratenwache – schon wieder seit dem Abend des 3. Dezember, als die letzte Bombe in der Pariser Metro hochging. Seither patrouillieren Männer in Kampfanzügen auf Bahnsteigen und Seine-Quais. Metalldetektoren stehen an den Eingängen von Kaufhäusern und Museen. Absperrgitter sind vor den Schulen installiert. Sämtliche Schließfächer Frankreichs sowie die öffentlichen Papierkörbe sind versiegelt. Und allorten kleben Plakate, die uns zu erhöhter Wachsamkeit auffordern.
9.000 „Piratenwächter“ – Polizisten, Gendarmen und Soldaten – sind täglich zu unserem Schutz gegen Attentate im Einsatz. Allein in den vier ersten Monaten haben sie es auf 4.000 unbegleitete Gepäckstücke, 9 Millionen Personenkontrollen, 2,5 Millionen Autokontrollen, 35.000 Festnahmen und Tausende von Abschiebungen gebracht.
Außer Leuten, die so aussehen wie der Sohn meines tunesischen Gemüsehändlers, der es auf sechs Ausweiskontrollen an einem Tag gebracht hat, nimmt das kaum noch jemand wahr. Zumal selbst die an Afrika-Einsätze gewöhnten Fremdenlegionäre unter den „Piratenwächtern“ inzwischen höflicher geworden sind und die Läufe ihrer Maschinenpistolen nicht mehr direkt auf den Bauch der Kontrollierten richten.
Unsere alten Kaugummis und benutzten Taschentücher legen wir jetzt eben auf die Mülleimer statt hinein. „Warum nicht“, sagen die Franzosen, „wenn's der Sicherheit dient.“ Selbst die Nörgler auf der Linken haben sich darauf eingestellt, daß „Vigipirate“ eine Dauereinrichtung geworden ist. Aus reinem Trotz nennen sie den Plan: „Vichy-Pirate“ – in Anspielung an das Kollaborateursregime von Marschall Pétain.
Eine Bombe haben die „Piratenwächter“, die schon während des Golfkrieges 1991 und während der Attentatswelle 1995 im Einsatz waren, noch nicht gefunden. Sie haben auch keine Spur zu den Attentätern aufgetan oder gar einen verhaftet. Aber da das ja noch kommen kann, hält die neue Regierung an dem Plan fest. Für den Sommer hat Innenminister Chévènement angeordnet, daß ein Teil der „Piratenwächter“ dienstlich in die Urlaubsorte fährt. Wer in den nächsten Wochen in Frankreich weilt, sollte deshalb doppelt auf sein Gepäck achten. Die „Piratenwächter“ sind überall – auch am Strand. Dorothea Hahn
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