: Halb gewollt, voll verloren
Bedarf hatten alle an ihr angemeldet, doch die Steuerreform ist passé. Eine Alternative zeigt sich noch nicht am politischen Horizont ■ Aus Bonn Markus Franz
Ganze 78 Seiten umfassen die Vorschläge der Steuerreform- Kommission der Bundesregierung, die „Petersberger Beschlüsse“ vom 22. Januar dieses Jahres. Gestern nun legte Bundesfinanzminister Theo Waigel die „Jahrhundertreform“ zu den Akten: „Die SPD hat absichtlich die Steuerreform verhindert.“
Dabei war es Theo Waigel selbst, der sich zunächst nicht mit einer solchen Reform anfreunden konnte. Ein von ihm in Auftrag gegebenes Gutachten von Professor Bareis landete noch im Dezember 1995 im Papierkorb. Doch unter dem Druck von über vier Millionen Arbeitslosen Anfang 1996 stieg das Verlangen nach einer umfassenden Reform über die Parteigrenzen hinweg. Angestachelt von der SPD und getrieben von CDU- Fraktionschef Wolfgang Schäuble, klaubte Waigel die Bareis-Vorschläge aus dem Mülleimer.
Nach der Präsentation der „Petersberger Beschlüsse“ wurde Waigel zunächst gefeiert. Zeitungen plazierten auf ihren Titelseiten sogar Steuertabellen. Jeder sollte sehen können, wie er profitiert. Verlierer gab es keine. Zwar sollten Nacht-, Sonntags- und Feiertagszuschläge besteuert werden ebenso wie Lebensversicherungen, Lohnersatzleistungen und Renten, aber dank der Senkung der Einkommensteuersätze auf 15 bis 39 Prozent bleibe unter dem Strich für alle etwas übrig. Die SPD stand als Miesmacherpartei dar, zumal sie kein eigenes Konzept vorweisen konnte.
SPD-Chef Oskar Lafontaine konzentrierte seine Kritik zunächst auf die soziale Schieflage der Reform. Insbesondere Arbeitnehmer würden zu den Verlierern gehören. Schichtarbeiter mit weiten Anfahrtswegen müßten mit Einbußen von mehreren hundert Mark rechnen. Die SPD wolle dagegen das Entlastungsvolumen der Steuerreform auf die Mehrheit der Arbeitnehmer und Familien konzentrieren. Lafontaine forderte eine Erhöhung des Existenzminimums von 13.000 auf 14.000 Mark, das Kindergeld sollte um 30 Mark auf 250 Mark angehoben werden. Seine Philosphie: Die Massenkaufkraft stärken, dadurch die Nachfrage beleben und so für mehr Arbeitsplätze sorgen. Dieses tat Wolfgang Schäuble als Humbug ab. Mehr Massenkaufkraft bedeute, daß die Menschen ihr Geld noch mehr für Reisen ins Ausland ausgeben würden.
Streit entzündete sich vor allem um den Spitzensteuersatz. Die Koalition hielt die Senkung für unerläßlich, um Investoren Anreize zu geben. Im vergangenen Jahr hätte das Ausland lediglich eine Milliarde in Deutschland investiert. Die SPD konterte, aufgrund der vielen Abschreibungsmöglichkeiten müßten in kaum einem Industrieland weniger Steuern gezahlt werden als in Deutschland. Die Koalition entgegnete, den ausländischen Investor interessierten nur die nominalen Sätze.
Auch innerhalb der SPD gab es unterschiedliche Auffassungen. Spitzenpolitiker wie Fraktionschef Rudolf Scharping und Gerhard Schröder hätten sich mit einem Höchststeuersatz von 40 Prozent anfreunden können. Doch Parteichef Lafontaine verblüffte Freund und Feind mit seinem Machtwort: Am Spitzensteuersatz werde nicht gerüttelt. Allmählich schwenkte die ganze Partei um. Inzwischen kritisierte selbst Hamburgs Bürgermeister Henning Voscherau, daß ein Prozent der Bevölkerung von 30 Prozent des Entlastungsvolumens profitiere.
Trotz aller Unterschiede scheinen sich beide Seiten inhaltlich ständig nähergekommen zu sein. Weitgehend einig sind sie sich über die Senkung der Lohnnebenkosten und die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer. Die Koalition hat zudem einige Korrekturen vorgenommen: So soll die Steuerfreiheit der Schichtzuschläge nun nur noch stufenweise abgebaut werden. Die Besteuerung von Lohnersatzleistungen, wie Arbeitslosengeld, entfällt. Außerdem werden die Unternehmen stärker belastet, indem etwa die Verrechnung von Gewinnen mit Verlusten eingeschränkt wird. In einem letzten Versuch bot die Koalition dieser Tage einen Spitzensteuersatz von 45 statt 39 Prozent an sowie die Halbierung der geplanten Nettoentlastung auf 15 Milliarden Mark. Das SPD-Konzept sieht eine Nettoentlastung von 7,5 Milliarden Mark vor. Jetzt scheint einzutreten, was Henning Voscherau schon lange prophezeit: Vor dem Jahr 2001 wird es zu keiner Steuerreform kommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen