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■ Mögliche OrteBloß kein Neid auf die im Vorderhaus

Wenn ich meine Adresse angebe, bestehe ich auf dem Zusatz „Hinterhaus“. Und lasse mich auch nur bei wirklich engagierter Gegenwehr auf die Abkürzung „HH“ ein. Im Hinterhaus zu wohnen ist nämlich ein Bekenntnis. Selbst wenn man es sich nicht ausgesucht hat, sondern einfach nur das erstbeste Zimmer nehmen mußte, das zu haben war. Ein asketisches Bekenntnis: keine Sonne, keine Aussicht, und wenn man im ersten oder zweiten Stock wohnt, noch nicht einmal ein Fetzen Himmel, den wehmütigen Blick zu nähren.

Ich wohne im vierten Stock, kann den Himmel sehen, wenn ich nur nahe genug an meinem Fenster stehe. Und zwischen 9.30 und 10.45 Uhr streift sogar ein Sonnenstrahl meine Fensterbank. Selbst nach einer langen Nacht stelle ich mir den Wecker, um die spärlich tropfende Lichtdusche bloß nicht zu verpassen.

Nötig wäre das eigentlich nicht. Der gemauerte Schalltrichter mit seinen dreieinhalb Wänden – mit Sicherheit der engste Innenhof der Stadt – tut das Seine zum Weckdienst- Crescendo des anbrechenden Tages: gemeinsam mit den Alkoholikern, die pflichtgemäß die Flaschen vom Vorabend nach Bunt- und Weißglas sortieren und knall-klirrend in die entsprechenden Tonnen entsorgen. Und den Türken-Bälgern aus dem Vorderhaus, die durch kehlige Schreie das Prinzip der Hausklingel unterlaufen und sich den langen Weg die Treppe hinauf sparen.

„Toll, klingt wie Urlaub“, finden die Menschen, die mich in meinem Hinterhof besuchen, an so einem Morgen. Die bekommen dann zur Strafe ein mediterranes Frühstück aus hartem Weißbrot und bitterem Kaffee.

Den schönsten Lärm macht im Sommer jedoch der Regen. Wenn nach einem Gewitter dicke Tropfen auf die Stadt fallen, Staub und Hitze aus der Augustluft waschen, beginnt im Innenhof die Wassermusik. Die kaputten Regenrinnen laufen über, Sturzbäche quellen aus dem löchrigen Blech hervor und fallen gemeinsam mit dem Regen auf den Waschbeton des Hofs. Der verwandelt sich unter den Fluten zu einer Riesenpfütze, aus der Mülltonnen und Fahrräder herausgucken. Wenn das Unwetter vorbei ist, kann der Hof trockenen Fußes für längere Zeit nur noch mit Gummistiefeln durchquert werden. Also bleibt man im Haus, wirft Papierschiffe aus dem Fenster und leistet sich ein bißchen Melancholie.

Früher, als Arm und Reich in der Stadt noch eng beieinander wohnten, bezeichnete der Innenhof die Trennlinie zwischen den Klassen. Im lichten Vorderhaus, so wissen es sozialgeschichtliche Bücher, hauste im vergangenen Jahrhundert die Bourgeoisie, während der Pöbel sich nach hinten verziehen mußte. In meiner Moabiter Straße wohnen im Hinterhaus Studenten und im Vorderhaus Türken. Geld hat hier niemand, aber die Türken müssen auch noch frieren, weil der Vermieter ihnen die Fensterrahmen nicht repariert.

Manchmal, während unsere Telefone um die Wette schellen, spielen wir Familie: wir aus dem Hinter- und die aus dem Vorderhaus. Der Mann von gegenüber, der im Sommer auf seiner Fensterbank einen Elektrogrill installiert, winkt manchmal. Und vor einigen Wochen hat die junge Türkin, die sonst immer ihre Gardine ganz zuzieht, mir quer über den Hof zugerufen, wie es mir so ginge? Ich würde immer so traurig aus dem Fenster schauen. Wenn es nur Examensstreß sei, solle ich mir keine Sorgen machen, der ginge vorbei.

Vorgestern hatte ich dann einen Grund, traurig zu sein. Weil die Rasselbande von nebenan ein paar Fahrräder aus unserem Schuppen geklaut hat, nachdem ich ihnen fröhlich und wohlwollend aus dem Fenster zugenickt hatte. Inzwischen sind die Räder aber wieder da. Und die eingetretene Schuppentür repariert der Choleriker, der über mir wohnt und Samstag abends gelegentlich seine gesamte „Scorpions“-Plattensammlung am Stück durchhört.

Wer im Hinterhaus wohnt und sich wirklich dazu bekennen will, der sollte lernen, den Lärm zu lieben. Und keinen Neid aufkommen zu lassen. Angeblich existieren in meinem Hinterhaus nämlich auch Mieter, die zur anderen Seite hinaus wohnen. Dort, so ist zu hören, gebe es einen Garten, einen stillen Blick fast ins Grüne. Muß das öde sein. Kolja Mensing

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