: Verkehrsdrill für Kinder, freie Fahrt für Raser
■ Verkehrserziehung in der Schule: Polizei und Verkehrswacht mühen sich um sichere Straßen, lösen aber nicht das Problem: „An die Autofahrer kommen wir nicht heran“
Wenn sich der achtjährige Fritz und die neunjährige Paula auf die Straße begeben, freut sich Polizeiobermeister Kapulke. Denn Fritz und Paula wissen, wie man sich im Verkehr verhält: Ampeln nur bei Grün überqueren, am Bordstein halten und links-rechts-links gucken, nicht auf die Straße rennen und beim Radfahren einen Helm tragen. Genau so hat es ihnen Kapulke bei der Verkehrserziehung eingetrichtert.
Und trotzdem leben Fritz und Paula gefährlich. Denn trotz Jahrzehnten der Verkehrserziehung in den Schulen und trotz werbewirksamer Kampagnen verunglücken jedes Jahr Hunderte von Kindern. 1996 wurden auf Berlins Straßen sechs Kinder getötet, über 1.700 wurden zum Teil schwer verletzt. 25 Prozent der Unfälle geschehen laut Verkehrsclub ACE auf dem Schulweg. Doch das Problem sind nicht die Kinder. Das Problem sind die AutofahrerInnen.
Mehr Sicherheit im Straßenverkehr wollen alle. Die Landesverkehrswacht Berlin e.V. bildet etwa 2.500 Schülerlotsen aus und organisiert die Verkehrserziehung. Die Schulverwaltung läßt in Grundschulen jedes Jahr zehn Stunden Verkehrsunterricht abhalten. Die Polizei schickt ihre etwa 60 SpezialistInnen in die Schulen, um die Kinder zu trainieren. Und die Bezirke lassen in 21 Jugendverkehrsschulen die Steppkes mit Fahrrädern und Tretautos den Ernstfall üben. Deutschland, so eine Verkehrsstudie über „Kinder in Gefahr“, hat im europäischen Vergleich die weitestgehenden Gesetze zum Schutz der Kinder – und trotzdem die höchsten Unfallzahlen: Jedes 20. Kind war bereits einmal in einen Unfall verwickelt, berichtet der ACE.
„Wir haben große Probleme“, meint auch Horst Beyer von der Landesverkehrswacht, die sich um Kinder, Jugendliche und Senioren kümmert. Die Zahl der tödlichen Unfälle gehe zwar langsam zurück, aber „wer redet denn schon von den verletzten Kindern?“, fragt Beyer. Freimütig gesteht er ein, daß die Verkehrserziehung eigentlich bei den Falschen ansetzt: „Wir können nur auf Einsicht hoffen. Aber an die Autofahrer kommen wir nicht heran.“
Die Verkehrswacht ist ein Reparaturbetrieb für die Opfer des Verkehrs – und sie wird es bleiben. Dafür sorgen die Mitglieder und Sponsoren aus der Autolobby wie etwa der ADAC, die Mineralölfirmen, Mercedes oder BMW. Andererseits gibt es Widerwillen dagegen, „die Kinder für den Verkehr abzurichten“, wie es ADFC-Sprecher Benno Koch beschreibt. Der Fahrradclub kritisiert vor allem, daß Radfahren vor allem als Risiko begriffen wird: „Die Ermahnungen, immer Helm zu tragen, haben zum Beispiel in Australien das Radfahren unsicherer gemacht: Weil weniger Leute unterwegs sind, schwindet die Aufmerksamkeit der Autofahrer.“
Schulsenatorin Ingrid Stahmer (SPD) wendet sich gegen die „Schuldzuweisung an die Kinder“. Die Erwachsenen könnten Gefahren besser einschätzen und müßten daher den Fuß vom Gas nehmen. Für Johannes Spatz, der sich im Bezirksamt Hohenschönhausen mit den Gesundheitsrisiken des Verkehrs beschäftigt, müßte Verkehrserziehung vor allem auf die AutofahrerInnen von morgen ausgerichtet sein: „Man muß den Kindern sagen, daß der Verkehr vermindert werden muß. Also muß man ihnen schon früh beibringen, auch als Erwachsene Fahrrad, Busse und Bahnen zu benutzen.“
Der Fußgängerschutzverein FUSS e.V. wiederum wendet sich gegen die Ansicht, nur Kinder seien dem Verkehr nicht gewachsen – auch die Autofahrer seien „offensichtlich nicht verkehrsgerecht zu erziehen“, heißt es. Zwar treffe es zu, daß die Kleinen Geschwindigkeit und Bremsweg nicht richtig einschätzten, doch sei zu schnelles Fahren immerhin Unfallursache Nummer eins, was zeige, daß auch die AutofahrerInnen sich verschätzten. Kinder kennen zwar die Verkehrsregeln, halten sich aber oft nicht daran – doch das gebe es bei den Erwachsenen ebenfalls sehr häufig. Und, schlimmer noch: „Kinder können zwar die Verkehrsregeln lernen, aber sie lernen nicht, daß Erwachsene diese Regeln nicht einhalten.“
Verkehrserziehung, so FUSS e.V., sei nur als „flankierende Maßnahme“ zu einem „kindgerechten Verkehrskonzept“ sinnvoll. Der Trend allerdings geht in die andere Richtung. Billige und einfache Mittel, um den Verkehr zu bremsen, werden reduziert, die Zebrastreifen sterben aus. Von einst über 1.200 gibt es im Westteil der Stadt inzwischen nur noch 61. Die Zebrastreifen werden abgeschafft, weil sie inzwischen als Unfallschwerpunkte gelten. Der Grund: Die AutofahrerInnen halten einfach nicht an. Bernhard Pötter
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen