: Strafrecht ahndet mit zweierlei Maß
Grünen-Politikerin kritisiert Reform des Sexualstrafrechts: Vergewaltigung und Mißbrauch Behinderter sollen nur halb so scharf bestraft werden wie die gleichen Delikte an Nichtbehinderten ■ Von Jürgen Voges
Hannover (taz) – Als völlig unzureichend hat der niedersächsische Behindertenbeauftragte Karl Finke die Änderungen des Sexualstrafrechts kritisiert, die die Bonner Koalition im Zuge der Strafrechtsreform plant. „Das Zweiklassenstrafrecht, in dem Menschen mit Behinderungen weniger zählen, beseitigt auch der Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht“, erklärte Finke in Hannover.
Zwar werde durch die geplanten Änderungen der Strafrechtsparagraphen 177 bis 179 jetzt klargestellt, daß auch Menschen, die „der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert sind“, vor sexueller Gewalt zu schützen seien. Doch nach den entsprechenden Paragraphen sei das Strafmaß für sexuellen Mißbrauch und für Vergewaltigung von Widerstandsunfähigen jeweils halb so hoch wie für sexuelle Gewalthandlungen an widerstandsfähigen Personen.
So drohe einem Täter, der einen widerstandsunfähigen Menschen mißbrauche, als Mindeststrafe nur eine Geldstrafe; eine vergleichbare Tat an einem widerstandsfähigen Menschen werde mit einer Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr belegt. Auch bei Vergewaltigung Widerstandsunfähiger halbiere sich das Strafmaß, und es gibt es einen Strafrabatt für die Täter. Finke forderte Änderungen des Paragraphen 174, der den sexuellen Mißbrauch von Schutzbefohlenen unter Strafe stellt.
Nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierung würden nun zwar Behinderte in stationären Einrichtungen, wie etwa Wohnheimen, geschützt. Alle potentiellen Opfer in teilstationären Behinderteneinrichtungen – wie Übergangsheime, Tagesstätten oder Werkstätten – erfasse der Paragraph jedoch nicht.
Auch die frauenpolitische Sprecherin der Bonner Grünen, Irmingard Schewe-Gerigk, sieht beim Strafrecht noch erhebliche Lücken zum Nachteil behinderter Frauen und Mädchen. Behinderte Frauen oder Mädchen würden nach sozialwissenschaftlichen Schätzungen viermal häufiger sexuell ausgebeutet als nichtbehinderte, erklärte die Grünen-Politikerin gestern in Bonn.
Da sexuelle Gewalt häufig im Rahmen eines Pflegeverhältnisses entstehe, verlangte Schewe-Gerigk „ein Recht auf Pflege durch eine gleichgeschlechtliche Person“. Daß auch künftig die Vergewaltigung einer Person, die widerstandsunfähig ist oder keinen eigenen Willen hat, mit nur einem Jahr Haft bestraft werden kann, während die Vergewaltigung Nichtbehinderter mindestens mit zwei Jahren zu ahnden ist, bezeichnete die Grüne als nicht vereinbar mit dem Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes.
Ein Sprecher des Bundesjustizministeriums rechtfertigte das bei Mißbrauch und Vergewaltigung von Widerstandsunfähigen vorgesehene Strafmaß damit, daß der entsprechende Paragraph Behinderte in besonderer Weise schütze und Handlungen unter Strafe stelle, die unter nichtbehinderten Erwachsenen nicht strafbar seien.
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