„Die Freiheit stirbt zentimeterweise“

■ Wolfgang Wieland, Fraktionsvorsitzender der Bündnisgrünen, über den bevorstehenden Besuch des ehemaligen New Yorker Polizeipräsidenten William Bratton in Berlin. Hinter dem harten Durchgreifen stehe der Wunsch, die Bürgerrechte zu schleifen

taz: Vor dem Besuch des ehemaligen New Yorker Polizeipräsidenten William Bratton in Berlin herrscht eine geradezu euphorische Stimmung. Wie erklären Sie sich das?

Wolfgang Wieland: Die Euphorie liegt daran, daß Bratton ganz einfache Rezepte verkündet. Er sagt, die Polizei kann das leisten, was viele von ihr schon lange erwarten. Er erfüllt das Bedürfnis nach dem starken Mann. Gerade in Zeiten sozialer Krisen ist ein solches Bedürfnis ja vorhanden. Eigentlich sollte Innensenator Jörg Schönbohm dieses Bedürfnis befriedigen, deswegen hat die CDU ihn auf den Schild gehoben. Doch das klappt nicht so recht. Nun heißt der neue Guru Bratton.

Aber auf den Schild hebt Bratton ja weniger die CDU als die Polizei. Liegt darin nicht das Eingeständnis, daß die Polizei nicht mehr in der Lage ist, ihre Aufgabe zu erfüllen?

Das ist ja das Paradoxon der Innenpolitik in der Bundesrepublik und in Berlin. Die, die politisch verantwortlich sind, führen die lauteste Wehklage, wie schlimm die Zustände seien – die von ihnen zu verantwortenden Zustände. Die Polizei, insbesondere die Gewerkschaftsspitze in der Polizei, hat natürlich auch klare materielle Eigeninteressen. Bratton sagt: Wir haben die Polizei aufgestockt, und damit fahren wir gut. Das sind Schallmeienklänge in den Ohren des Gewerkschaftsvorsitzenden.

Steht dahinter ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel, oder ist das Wahlkampf inklusive Pfründensicherung?

New Yorker Verhältnisse in Berlin wären ein Paradigmenwechsel. Das erschreckt mich auch. Der frühere GdP-Vorsitzende Burkhart von Walsleben sagte den richtigen Satz – und das war Programm bei ihm: Jede Mark, die wir heute nicht im Bereich Jugend und Soziales ausgeben, müssen wir in kürzester Zeit zehnfach für Polizei, Staatsanwaltschaft und Justiz ausgeben. Ein Paradigmenwechsel besteht nun darin, daß die GdP-Spitze, jedenfalls in Berlin, heute sagt: Jede Mark, die wir heute für die Polizei ausgeben, brauchen wir nicht später für soziale Folgelasten auszugeben. Man ruft nicht mehr nach dem Sozialarbeiter, man ruft nach dem Polizisten. Zum Teil mit der Begründung, daß wir uns den Sozialarbeiter nicht mehr leisten können, daß wir für den kein Geld mehr haben.

Was hieße denn eine Umsetzung des New Yorker Konzepts für den Alltag in Berlin?

Die Polizei bekäme ein anderes Feindbild implantiert – der Normalbürger gehört dazu. Es wird nicht mehr zwischen demjenigen, der wirklich sozialschädlich, der gemeingefährlich, der brutal und aggressiv ist, und demjenigen, der eine Bananenschale wegwirft oder auf dem Gehweg Fahrrad fährt, unterschieden. Wenn man Brattons Texte liest, dann ist für ihn jemand, der schlampig in der U-Bahn sitzt, ein genauso großes Problem wie ein Heroindealer oder ein bewaffneter Räuber. Fazit: Die Bevölkerung wird zur Verdachtsperson, daher auch der Ruf nach den verdachtsunabhängigen Kontrollen. Man will zu jeder Zeit an jedem Ort jeden kontrollieren können. Dahinter steckt die Annahme, daß dann niemand mehr eine Waffe mitnimmt, niemand mehr Betäubungsmittel bei sich hat, daß man die Bevölkerung zu normgerechtem Verhalten erziehen kann. Das ist dann ein Polizeistaat, der in New York lange akzeptiert wurde, weil dort die Zustände auch durch eine verfehlte Polizeistrategie sehr, sehr schlimm waren. Man hatte in New York die Polizei aus den Stadtteilen abgezogen und sie auf ein rein reaktives Muster zurückgefahren. Man hatte die berühmten No-go-areas. Deshalb sagen alle vernünftigen Leute, daß es – bei einem solchen Katastrophensockel beginnend – relativ naheliegend war, daß die Verbrechenszahlen tatsächlich sinken, wenn Polizei wieder sichtbar ist. Aber man macht das um den Preis, daß die Polizei bestimmt, was Norm ist und was nicht Norm ist. Die Definitionsbefugnis geht auf die Polizei über.

Gibt es denn überhaupt Gemeinsamkeiten mit der New Yorker Situation?

Berlin ist ohne Frage in einer komplizierten Situation. Insoweit, aber auch nur insoweit gebe ich der GdP-Spitze recht. Alle Dramatisierungen halte ich aber für schädlich. Wenn jetzt wieder aufgrund einer GdP-Pressekonferenz in allen Zeitungen steht, Berlin sei die Hauptstadt des Gewaltverbrechens, wenn jahrelang von Nachrichtenmagazinen mit dieser These hausieren gegangen wird, dann ist das maßlos übertrieben und entspricht auch nicht der objektiven Bedrohungslage. Subjektiv empfinden es aber viele so, und das ist dann das attraktive Potential für Rattenfänger bis hin zu Gerhard Schröder. Und dann haben wir die berühmte politisch-publizistische Verstärkerwirkung: Die Leute lesen, Berlin sei die Hauptstadt des Verbrechens, man fragt die Politiker, was sie dagegen tun, die Politiker sagen, sie räumen auf. Da sind wir in einem Kreislauf der starken Worte, des übersteigerten Bedrohungssyndroms.

Wie wollen die Bündnisgrünen mit dieser komplizierten Situation umgehen?

Wir meinen auch, daß etwas geschehen muß. Aber es geht um bessere Konzepte, um bürgerrechtsfreundliche Konzepte, um Konzepte, die nicht im Polizeistaat enden. Zum Beispiel geht es um kriminalpräventive Kooperation.

Gibt es denn analog zu New York hier eine Bereitschaft in der Bevölkerung, diesen Polizeistaatsweg zu akzeptieren?

Es gibt bei der Polizei Menschen, die von dem Supercop aus den USA begeistert sind. Es gibt aber auch besonnene Menschen, zum Beispiel bei der Kriminalpolizei, die sagen, das sei ein Weg, der bei Todesschwadronen wie in Südamerika endet. So weit ist die Spannbreite. Große Teile der Bevölkerung sind natürlich für derart scheinbar einfache Erklärungsabläufe empfänglich. Wer freut sich schon über den Breitscheidplatz, wie er sich präsentiert? Wer freut sich schon über das Kottbusser Tor, wie es sich präsentiert? Wenn ich erzähle, daß ich das innerhalb von zwei Monaten mit der Polizei löse, dann sagen große Teile der Bevölkerung: Prima, dann mach mal.

Es ist aber eine falsche Effizienzversprechung. Ich kann die Drogenszene vertreiben, das hat man in Berlin mehrfach vorgemacht. Ich kann sie auch vom Kottbusser Tor vertreiben, dann habe ich sie eben in Lichtenberg. Und das war auch in New York nicht anders. Herr Bratton hat keinen Heroinabhängigen von der Nadel runtergeholt. Er hat keinem Obdachlosen je eine Herberge angeboten. Er hat verdrängt, er hat Räume für den Normalbürger sozusagen zurückgewonnen, deshalb war er beliebt. Aber eine an den Ursachen ansetzende Kriminalitätspolitik kann sich damit nicht zufriedengeben. Man muß Ursachen und Symptome, man muß beides bekämpfen. Die Priorität muß auf den Ursachen liegen. Dies heißt aber nicht, daß ich an jedem Ort der Stadt eine Drogenszene akzeptiere, das wäre eine falsch verstandene Liberalität, die zum Teil auch aus grünen Kreisen geäußert wird.

Kann denn dann die Polizei überhaupt etwas ändern, oder spricht sie nur markige Worte?

Ich bin äußerst skeptisch, was das Umsetzen von markigen Worten in Berlin betrifft. Ich denke nur an die Aktion Sauberes Berlin. Man wird jetzt schon in Dreilinden von einem Graffiti begrüßt – ein Witzbold hat dort an der Lärmschutzwand „Aktion Sauberes Berlin“ hingesprüht. Ich kann mir nicht vorstellen, daß New York in Berlin funktioniert. Auch war dort zu Anfang – das ändert sich ja gerade – eine viel größere Akzeptanz für das Django-mäßige Auftreten der Polizei.

Es gibt ja in Berlin aktuell eine Diskussion darüber, was sich verändern könnte: die Polizeireform, die Präventionsprojekte in Neukölln und Lichtenberg. Wirkt die Bratton-Euphorie jetzt als Störfeuer darin, oder war das nur eine Sommerlochdebatte?

Das war ein Trommelfeuer, das über uns niederging, das erstaunlicherweise auch von linksliberalen oder früheren linksliberalen Blättern mitgetragen wurde. Deshalb glaube ich nicht, daß es nur das übliche Sommerloch gewesen ist. Hier wird eine Diskussion um die künftige Rolle der Polizei geführt – darüber, wieviel Bürgerrechte wir uns leisten wollen, wieviel Polizeistaat es sein darf –, die die nächsten Wahlkämpfe bestimmt. Gerhard Schröder hat ja damit angefangen. Er wurde vom Mann der Bürgerrechte zum Mann der rechten Bürger und legt jeden Tag noch ein paar Kohlen nach. Hier werden Positionen der Bürgerrechtsbewegung geschliffen. Es geht längst nicht mehr nur um den Lauschangriff, es geht – mit dem Vorhaben, die Stasi-Kameras zu reaktivieren und die öffentlichen Plätze zu überwachen – um den Videoangriff. Man entfernt sich total von dem Bild, daß der Bürger an sich unverdächtig ist. Und das wahnsinnige an der New-York-Diskussion ist doch: Man leistet sich das kostspieligste Gefängnissystem der Welt, diese Gefängnisse sind völlig überfüllt. Es kann überhaupt niemand sagen, daß diese Tour kostengünstig sei. Unterm Strich kostet sie mit dem schlichten Wegsperren großer Teile der Unterschichtsbevölkerung Unsummen.

Und warum gibt es gerade jetzt diese Diskussion?

Sie ist nicht neu. Die Konservativen wollen schon immer den starken Staat, den Bürger, der kuscht. Die Vorwände, dieses durchzusetzen, variieren. Da war zunächst der Linksterrorismus, da war dann die Organisierte Kriminalität, und jetzt ist durch die New-York-Debatte zunehmend die Rede von der Verslumung, Verwahrlosung und ethnischen Konflikten. Es geht dabei um Saubermachen, um Ausmerzen.

Also doch gar nichts Neues?

Doch. Hier gilt tatsächlich: Die Freiheit stirbt zentimeterweise. Mit dem Hinweis auf die Rote Armee Fraktion könnte man verdachtsunabhängige Kontrollen heute nicht mehr begründen. Mit dem Hinweis darauf, daß man den Breitscheidplatz sicher machen will, daß man da wieder Eis essen kann, ohne belästigt zu werden, ist es akzeptiert. Man hat jetzt einen Begründungszusammenhang, der Akzeptanz findet, die Pläne gab es schon vor zwanzig Jahren. Man konnte sie nur wegen des Widerstands der Bürgerrechtsbewegung, der Datenschützer und anderer nicht durchsetzen. Interview: Barbara Junge