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Die Politik der Panikmache

■ Die Kriminalitätsstatistik sagt wenig über die wirkliche Entwicklung von Kriminalität aus. Die "Furchtvermarktung" der Medien verstärkt aber das subjektive Gefühl der Bedrohung

„Lebensgefahr! Fahren Sie nicht zur dokumenta.“ Diese Warnung könnte man aus der polizeilichen Kriminalitätsstatistik ableiten – denn Kassel ist die „Mordhauptstadt“ der Republik. Die hessische Großstadt weist in Relation zur Einwohnerzahl die höchste Mordrate der Bundesrepublik auf – auf 200.000 Einwohner kommen 22 Tötungsdelikte.

Berlin liegt mit 79 Morden (1995) bezogen auf die Einwohnerzahl weit hinter Kassel. Das Beispiel zeigt, wie fragwürdig die polizeiliche Statistik ist. Dennoch wird sie häufig als Beleg für steigende Verbrechenszahlen herangezogen. Ein Anstieg oder Rückgang von Straftaten muß aber nicht notwendigerweise bedeuten, daß es tatsächlich mehr oder weniger Verbrechen gibt. „Die Polizeistatistik ist kein Abbild der Realität, sondern nur ein kleiner Ausschnitt“, stellt die grüne Abgeordnete Renate Künast fest. Das Zahlenwerk spiegelt nur die Taten wider, die der Polizei angezeigt werden. „Polizeiliche Tätigkeitsstatistik“ wäre daher der treffendere Ausdruck.

Am Beispiel der Fahrraddiebstähle zeigt der Polizeikritiker Otto Diederichs, daß rückläufige Anzeigen keineswegs bedeuten, daß weniger Fahrräder geklaut werden. Der Grund ist profan: Weil viele Hausratversicherungen Fahrräder nicht mehr versichern, lohnt sich eine Anzeige nicht mehr. Zumal die Aufklärungsquote recht gering ist.

Auch eine Verlagerung der polizeilichen Ermittlungen schlägt sich häufig in steigenden Deliktzahlen nieder. Beispiel Jugendkriminalität: 1994 wurden insgesamt 7.452 Fälle von Raub, Körperverletzung, Bedrohung und Sachbeschädigung durch Jugendliche registriert. 1995 erfaßte die Polizei 11.527 Delikte. Was auf den ersten Blick wie eine beträchtliche Steigerung aussieht, täuscht. Die Steigerung beträgt 4.000 Delikte, doch davon entfallen 3.000 auf Sachbeschädigung – darunter fallen vor allem Graffiti-Sprüher, gegen die verstärkt vorgegangen wurde. Ein Anstieg um 1.000 Fälle ist bei Raub zu verzeichnen. Bedrohung und Körperdelikte, die von jugendlichen Tätern ausgehen, sind dagegen in den letzten Jahren konstant geblieben, wie auch die Jugendkriminalität insgesamt. Allerdings nehme die Brutalität der jungen Täter zu, so ein Polizeiexperte.

Weil sich die Statistik je nach Interessenlage instrumentalisieren läßt, wird sie vereinzelt auch von Polizeiexperten kritisch gesehen. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) untermauert damit jedoch gern ihre Alarmmeldungen: Da avanciert Berlin zur „Hauptstadt der Gewalt“, wahlweise auch zur „europäischen Metropole des Verbrechens“. Polizeikritiker Diederichs kommt dagegen zu der nüchternen Einschätzung: „Auch wenn verschiedene Indizien für eine tatsächliche Steigerung von Kriminalität sprechen, ist der Trend doch weitaus weniger dramatisch, als dies der Öffentlichkeit immer wieder suggeriert wird.“

Die Alarmmeldungen verunsichern aber Teile der Bevölkerung. Diederichs stellt einen „in sich geschlossenen Kreislauf der Furchtvermarktung zwischen Medien und Politik“ fest. Aus Verbrechen lassen sich Schlagzeilen machen, die die Politik als Legitimation für ein härteres Vorgehen benutzt.

Wie sich die derzeitige Debatte um innere Sicherheit auf das Bedrohungsgefühl auswirkt, läßt sich mangels Daten noch nicht feststellen. Wie Diederichs in der Zeitschrift Bürgerrechte & Polizei schreibt, ist die Kriminalitätsfurcht zumindest bis 1995 auf dem Niveau der 80er Jahre geblieben. Bei Umfragen von Kriminologen äußerten damals rund 36 Prozent der Befragten Angst vor Kriminalität. Der Höchstwert wurde 1975 mit 51 Prozent erreicht. Bis 1990 sank der Wert auf 31 Prozent.

Aufschlußreich ist auch eine Untersuchung von 1989. Sie ergab, daß Deutsche im Vergleich zu anderen Europäern am meisten Angst hatten, Opfer einer Straftat zu werden. Ohne Grund – denn das Kriminalitätsrisiko war nicht höher als in anderen Ländern. Dorothee Winden

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