: Trassenschläge des Fortschritts
Verkehr, Mobilität, Mobilmachung von Brügge bis Novgorod: Eine Ausstellung in Essen wirft manchen Blick auf die Geschichte der ältesten Straße Europas. Schutzheiliger Virilio mit seinen Thesen zur Beschleunigung ■ Von Ulrich Brieler
In einer beiläufigen Bemerkung der „Dialektik der Aufklärung“ heißt es: „Der Raum ist die absolute Entfremdung.“ Sticht diese Beobachtung, so lautet der Umkehrschluß: Straßen sind Wundsalben für die Narben der Entfremdung. Sie verringern Distanzen, leiten Annäherungen ein, ermöglichen Begegnungen. Der ältesten und längsten Straße Europas widmet sich eine Ausstellung, die zur Zeit im Essener Ruhrlandmuseum zu sehen ist: „Transit. Brügge–Novgorod. Eine Straße durch die europäische Geschichte“.
Aufbruch
Man betritt ein römisches Heerlager. Rechts die Köpfe der Feldherren, links die Utensilien der Legionäre. Der Anfang ist gemacht und verrät die Machart. Die Ausstellung vertraut der Wiedererkennung und entfaltet sie in der Verbindung von großer Geschichte mit kleinen Geschichten. Eine Genealogie der vertrauten Gesichter von Tiberius über Karl, Otto, Friedrich, Katharina bis zu Rosa, Lenin, Hitler und Adenauer dient als Wegweiser durch 2.000 Jahre europäischer Kulturgeschichte. Aber gleichsam um jeder Politikgeschichte die Spitze zu brechen, bleiben die bekannten Köpfe Farbtupfer in einem Gemälde, dessen Thema die kulturellen Räume sind, die die Mobilität erschließt. Der Körper dieser Geschichte ist quasi „kopflos“. Die neun Stationen der Ausstellung dokumentieren Lebenswelten, die diese staunenswerte Beweglichkeit hervorgebracht hat. Die gewohnten Epochensignaturen – von der mittelalterlichen Christianisierung über die Reformation, den Absolutismus, die Aufkärung in die Katastrophengeschichte unseres Jahrhunderts – sind nicht mehr als Eingänge, um die Realität einer spätmittelalterlichen Hansestadt, einen Gewaltritt von Brügge nach Livland in der frühen Neuzeit oder die Geschichte des Potsdamer Platzes im 20. Jahrhundert kennenzulernen.
Rast
Schenkt man den Machern Glauben, entstand die Idee zur Ausstellung bei einem Stau auf der Bundesstraße 1, der Autobahn durch das Ruhrgebiet. Ein vorzüglicher Beleg für die Behauptung, daß der Stillstand die Hebamme der Bewegung ist. Der Fortschritt hat hier übrigens 1.800 Jahre schlicht auf der Stelle getreten. Denn zumindest der Untergrund der Straße veränderte sich lange Zeit nicht. Bis zum napoleonischen Straßenbau bleibt die römische Heeres- und Handelsstraße, ein in dieser Verkettung immer wiederkehrender Nexus, der Ausgangspunkt der Mobilität. Sie ermöglicht ein vielfach schnelleres Fortkommen als jeder mittelalterliche Trampelpfad. Dies stellt die Frage: Ist der Ausbau der Straße ein Trassenschlag des Fortschritts?
„Transit“ begegnet dieser Anfrage mit Unbehagen. Sie gibt eine Antwort auf Umwegen, indem sie Paul Virilios Thesen zur Geschichte der Geschwindigkeit als Leitfaden aufnimmt und sie zugleich kritisch kommentiert. Virilios zentrale Behauptung lautet, daß jede Etappe der Zivilisation eine Beschleunigung der Geschwindigkeit mit sich bringt. Der „unmittelbaren Nähe“, die fußläufig zu bewältigen ist und als Reisegründe für den einfachen Mann nur die Pilgerfahrt und den Krieg kennt, folgt die „mechanische Nähe“. Der Zug, das Auto und das Flugzeug beherrschen diese Welt der Mobilität. Heute dominiert die „elektromagnetische Nähe“ via Telepräsenz, die eine totale Synchronie von Raum und Zeit möglich machen soll, „Transit“ zeigt, daß diese Chronologie bestenfalls die Hälfte der Wahrheit ist. Denn aus der Dialektik von Bewegung und Beharrung erwachsen geschichtliche Wirklichkeiten, die sich ihre eigene Zeit nehmen. Die technischen Möglichkeiten der Mobilität – per pedes, zu Pferd, mit der Postkutsche, dem Auto – erschaffen zwar kulturelle Räume, erliegen aber zugleich deren Schwerkraft. Auf jede Etappe der Beschleunigung folgt eine Phase der Ruhe. Der Stillstand ist nicht nur die Voraussetzung der Bewegung, sondern die des Lebens überhaupt.
Man kann die Phantasie der Raumgestaltung nicht genug loben, der es gelingt, diese Differenz der zeitlichen Räume ebenso erfahrbar zu machen wie der erdrückenden Fülle der 2.000 Exponate aus 300 europäischen Museen Herr zu werden. Auf übermäßige Kommentierung kann verzichtet werden. Die Exposition spricht für sich selbst. Wenn sich die religiös- imperiale Missionierung des 10. Jahrhunderts ins Dunkel einer Krypta eingetaucht findet, dann beleuchtet dies treffend die politische Theologie des hohen Mittelalters. Wenn sich zwischen den Büsten der aufgeklärten Autokraten Katharina II. und Friedrich II. zwei Armeen von Zinnsoldaten begegnen, dann erzählt diese Konstruktion soviel über die disziplinierte Despotie des 18. Jahrhunderts wie die Kommentare zum Jahrhundert der Aufklärung. Und wenn die Eisenbahnschienen im Ersten Weltkrieg auf die Bilder der ermordeten Luxemburg und Liebknecht zielen, dann sagt dies mehr über die Archäologie des Kommunismus als alles Weltbürgerkriegsgeschwafel.
Gas geben!
Den zentralen Bruch in der Geschichte der Mobilität symbolisiert die Eisenbahn. Ihre technische Potenz reorganisiert nicht nur die sinnlichen Wahrnehmungsvermögen der Subjekte, sondern schafft zugleich die Möglichkeit, Massen in Permanenz fortzubewegen. Sie demokratisiert und totalisiert die menschliche Mobilität. Die Geschichte dieser verkehrstechnischen Revolution ist eine Geschichte der Katastrophen. Ohne Eisenbahn kein Erster Weltkrieg. An den Eckpunkten zwischen Brügge und Novgorod, in Flandern und im baltischen Raum, toben jene Materialschlachten, die dem Jahrhundert seine Physiognomie geben. Ohne ausgebaute Verkehrswege keine Massendeportationen und Vernichtungen. Am Rande dieses Weges findet sich manches Unverhoffte, so ein deutsches Brettspiel nebst Bedienungsanleitung: „An diesem außerordentlich heiteren und zeitgemäßen Gesellschaftsspiel können sich drei bis sechs Personen beteiligen. Zum Spiel gehören ein Würfel, 6 Figuren und 36 Hütchen. Jeder Spieler erhält eine Figur, die die Nummern 1 bis 6 tragen. (...) Jeder Spieler hat einen Wurf; so viele Augen er wirft, so viele Felder rückt er mit seiner Figur nach dem Mittelplatze zu vor. Überschreitet er die Stadtmauer und kommt auf ein besonders gekennzeichnetes Judenhaus zu stehen, so erhält seine Figur vom Spielleiter ein Judenhütchen aufgesetzt. Kommt er dann wieder zum Wurf, so geht er mit seiner Figur nach der Maßgabe der geworfenen Augen zum Sammelplatz zurück und setzt die Hütchen dort ab. (...) Das Hin- und Herlaufen zwischen der Stadtmauer und dem Mittelplatz wiederholt sich so lange, bis einer der Spieler sechs Judenhütchen auf den Sammelplatz gebracht hat.“ Für Großdeutschland zeichnet die Firma Rudolf Fabricius aus Neusalza- Sprengberg für den Vertrieb dieses Brettspiels mit dem Namen „Juden raus! Auf nach Palästina!“ verantwortlich. Soweit der Kommentar der Ausstellung zur Goldhagen-Debatte.
Ankunft
Natürlich befördert diese Ausstellung eine Absicht: jener Landmasse, die nun endlich auch politisch Europa heißen soll, das Geschenk einer Vergangenheit zu geben, die sie hat, ohne ein Bewußtsein davon zu besitzen. Die Geschichte der Landverbindung von Brügge nach Novgorod ist sekundär. Sie bildet nur das materielle Unterpfand dieser geschichtsphilosophischen Behauptung. Man darf fragen, ob sie mehr als eine These ist, ob dieser in das Konzert der florierenden europäischen Geschichtsreihen passende Ton nicht nur die Kette jener Konstruktionen fortsetzt, die den Weg der Straße säumen: als Idee des Römischen Imperiums, des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, des wahren Glaubens, des Nationalstaates, des Kommunismus. Die Ausstellungsmacher begegnen dieser Ambition mit einem freiwilligen Augenzwinkern. Am Ende, man hat den Checkpoint Charlie und die Fähnchen der friedlichen Revolution von 1989 hinter sich, betritt man die Wirklichkeit der postkommunistischen Welt. Dem Besucher winken zum Abschied zwei Dutzend Gartenzwerge zu, erworben an einem der zahllosen Kaufstände, die sich dem Polenreisenden nach dem Überschreiten des ehemals Eisernen Vorhangs kilometerweit am Straßenrand aufdrängen: Menetekel einer scheinbar grenzenlosen Welt, die sich den Maßen des eigenen Schrebergartens anpaßt. Nie war so viel Nähe.
Bis 21.9. im Ruhrlandmuseum Essen. Katalog 58 Mark
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