: Will nicht gehätschelt werden
Gesichter der Großstadt: Der 29jährige Özcan Mutlu, Mitgründer von „Immigrün“, gehört zu einer neuen, selbstbewußten Generation von Immigranten ■ Von Dorothee Winden
Seiner Grundschullehrerin ist Özcan Mutlu heute noch dankbar. Denn vielleicht wäre das Leben des Arbeiterkindes ganz anders verlaufen, wenn sie den Siebenjährigen nicht aus der Ausländerregelklasse heraus in eine ganz normale Klasse gesteckt hätte. Der 29jährige Özcan Mutlu plant heute als Ingenieur Mobilfunknetze und ist eines der politischen Nachwuchstalente der Kreuzberger Grünen.
Seit dem fünften Lebensjahr, als seine Eltern nach Berlin einwanderten, lebt Mutlu in Kreuzberg. Die Familie wohnte in der Waldemarstraße, als Jugendlicher trieb sich Mutlu in besetzten Häusern herum. Er genoß die Freiräume und „daß die Hausbesetzer Zeit hatten, mit uns zu spielen“, erinnert er sich. Als Zehnjähriger fuhr er bei Hausbesetzer-Demos im Lautsprecherwagen mit. Seine Affinität zur Kreuzberger Alternativszene und den Grünen entspringt dieser Zeit.
Als er 1992 mit 24 Jahren Bezirksverordneter wurde, war er der Jüngste in der BVV. „Das war ein Sprung ins eiskalte Wasser.“ Politische Erfahrung hatte er keine, nur den Drang, etwas zu verändern. Die Bestätigung, daß er sein Mandat annimmt, faxte er damals aus dem US-amerikanischen Omaha/Nebraska, wo er ein Jahr lang mit einem Stipendium der Carl-Duisberg-Stiftung studiert hatte.
Den Grünen war er 1990 beigetreten, nachdem er die doppelte Staatsbürgerschaft erlangt hatte. Zur Kandidatur für die BVV ermutigte ihn zwei Jahre später Franz Schulz, damals Fraktionschef der Grünen in der Kreuzberger BVV. „Ich hatte den Eindruck, daß er sehr agil ist und seinen Reden auch Taten folgen lassen will“, sagt Schulz, heute Bezirksbürgermeister von Kreuzberg.
Schulz sieht sich bestätigt. Mutlu war mit von der Partie, als die Kreuzberger Grünen gegen den Widerstand des damaligen Schulsenators Jürgen Klemann (CDU) eine Deutsch-Türkische Europaschule durchsetzten. Heute geht Mutlus fast achtjähriger Sohn dort in die zweite Klasse. Mutlu ist im Förderkreis der Schule aktiv.
In anderthalbjähriger Überzeugungsarbeit setzte er durch, daß Kreuzberg eine Partnerschaft mit dem Istanbuler Stadtteil Kadiköy einging. Die Kontakte der beiden Stadtviertel seien lebendiger als die Städtepartnerschaft zwischen Istanbul und Berlin, meint Mutlu. In der vergangenen Woche war erneut eine Delegation von Schülern aus Kadiköy zu Besuch. Auf seine Initiative geht auch zurück, daß bei der Vergabe von Ausbildungsplätzen in der Bezirksverwaltung verstärkt MigrantInnen zum Zuge kommen.
„Es macht Spaß, die Früchte seiner Arbeit zu sehen“, sagt Mutlu. Nach den ersten zwei Jahren in der Politik hätte er allerdings fast das Handtuch geworfen. Wieder war es Franz Schulz, der ihn überzeugte zu bleiben. Eine Niederlage erlitt Mutlu ausgerechnet, als er vor zwei Jahren gegen die innerparteiliche Migrantenquote zu Felde zog. Bei den Kreuzberger Grünen gilt, daß ein Viertel aller Listenplätze für die BVV nach Möglichkeit an Migranten zu vergeben ist. Von Quoten – die Frauenquote ausgenommen – hält Mutlu nichts. „Die Partei hat noch nicht gelernt, daß eine neue Migrantengeneration im Kommen ist, die nicht gehätschelt werden will. Wir wollen ernst genommen und kritisiert werden, wenn wir Mist bauen“, ärgert er sich. „Das ,Arme Ausländer‘-Syndrom kotzt mich an.“ Er hofft, daß die Regelung bei der nächsten Kandidatenaufstellung gekippt wird.
Migrantenpolitik war nicht unbedingt Özcan Mutlus Wunschressort. „Ich habe mich immer dagegen gewehrt. Aber man kommt zwangsläufig in die Rolle, weil es sonst keiner macht.“ Mutlu engagiert sich aber auch in der Bildungspolitik. Bildung ist für ihn der Schlüssel zur Integration. Daß er zur erfolgreichen Minderheit in der zweiten Generation gehört, ist ihm durchaus bewußt. Seine Erwartung, daß die dritte Generation automatisch bessere Chancen haben wird, hat sich nicht bestätigt. „Die große Masse ist weder im Deutschen noch im Türkischen heimisch.“ Als stellvertretender Vorsitzender des bezirklichen Schulausschusses erlebt Mutlu die Probleme aus nächster Nähe.
Auch wenn er beansprucht, zu einer neuen, in Deutschland sozialisierten Politikergeneration zu gehören, tritt er in einem Punkt in die Fußstapfen der ersten Generation. Wie der Kreuzberger Abgeordnete Riza Baran ist Mutlu zur Anlaufstelle für Migranten geworden, die Probleme mit der Bürokratie haben. Nicht immer sind die Beschwerden berechtigt, aber „wenn sie wirklich diskriminiert werden, ist das nicht hinnehmbar“, verteidigt Mutlu die Klientelbetreuung. „Du kannst die Leute nicht abwimmeln.“
Seit April ist Mutlu auch Sprecher des Berliner Landesverbandes von „Immigrün“, einer Organisation von Migranten, die den Grünen nahestehen. Dem harten Kern der Gruppe, die sich am Wochenende der Öffentlichkeit vorstellte, gehören bislang zwanzig junge MigrantInnen an. Die „neuen Inländer“, wie sie sich bezeichnen, fordern eine gleichberechtigte Teilhabe an dieser Gesellschaft. Bei den nächsten BVV-Wahlen hofft Mutlu, daß ein Dutzend Kandidaten von Immigrün ein Mandat erringen.
Bei all diesen Aktivitäten bleibt Özcan Mutlu nicht mehr viel Zeit für das Privatleben. „Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau“, sagt er nicht ohne Stolz. Seine Frau, die sich mit einer Boutique für Kinderbekleidung selbständig gemacht habe, akzeptiere, daß er für das Familienleben relativ wenig Zeit habe. Allerdings werde er im Oktober nach Ablauf seiner Amtszeit nicht erneut für den Fraktionsvorstand kandidieren, um mehr Zeit für seinen Sohn zu haben.
Ob er Ambitionen hat, für das Abgeordnetenhaus oder den Bundestag zu kandidieren? Die Antwort fällt diplomatisch aus: „Irgendwann werde ich vor der Entscheidung stehen.“
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