Gerecht über Leben und Tod entscheiden

■ Warum bekommt einer eine Spenderniere, der andere nicht? Wie werden Studienplätze verteilt? / Der Bremer Sozialforscher Dr. Volker H. Schmidt hat es erforscht

Am Bremer Zentrum für Sozialforschung (ZES) ist in den vergangenen Jahren eine für moderne Gesellschaften brisante Fragestellung untersucht worden: Nach welchen Kriterien werden knappe Güter verteilt? Der Soziologe Volker H. Schmidt hat dies an drei Beispielen untersucht: Verteilung von Spendernieren, Entlassungen aus Betrieben, Studienplatzvergabe.

taz: Ist es gerecht, wenn für Organverpflanzungen die Verteilung der knappen Spender-Nieren auch das Kriterium Alter gilt?

Volker Schmidt: Ein Sozialwissenschaftler kann nur untersuchen, wie es gemacht wird und wie es begründet wird. Das Lebensalter ist in den medizinethischen Diskussionen ein Argument...

Und in der Praxis?

Nach meinem Eindruck massenhaft. Patienten jenseits eines bestimmten Lebensalters haben kaum eine Chance, in eine Warteliste aufgenommen zu werden.

Offiziell oder inoffiziell?

Inoffiziell natürlich, sowas geht immer nur inoffiziell. Weil es Leute gibt, aus deren Sicht das ein Skandal ist. Die einen sagen: Jedes Leben ist gleich wert. Die anderen würden sagen: Ältere haben ein vollständiges Leben hinter sich, die Jüngeren können deshalb Priorität bekommen, wenn man selektieren muß. Es ist nicht immer leicht, da ganz einfache Antworten zu finden, denn fachliche, objektive Kriterien können in allen diesen Bereichen nicht den Ausschlag geben...

... obwohl das Auswahlverfahren, das bei knappen Gütern für den Anschein von Gerechtigkeit sorgen soll, formal erscheint.

Die Patienten werden regelmäßig belogen. Ein deutscher Gesundheitsökonom hat das mal barmherzige Lügen genannt. Man schiebt medizinische Gründe vor und macht es dem Patienten leichter, die Entscheidung zu akzeptieren. Es geht immerhin um Leben und Tod. Das macht es auch dem Arzt leichter. Stellen Sie sich vor, Sie sollen einem Patienten sagen: Tut mir leid, medizinisch könnten wir zwar, aber Sie sind mir zu alt ... Also erfindet man medizinische Rationalisierungen.

Das andere Beispiel, das Sie untersucht haben, ist die Vergabe von Studienplätzen. In der Theorie berechtigt das Abitur zum Studium. Das weitergehende Selektionsverfahren ist dann undurchschaubar kompliziert.

Wenn zu viele da sind, die das fachliche Kriterium Abitur erfüllen, dann müssen andere, nicht sachliche Kriterien die weitere Selektion bestimmen. Gerechtigkeit bedeutet in dem Fall, soziale Nachteile auszugleichen. Das sind dann ausdrücklich keine fachlichen Kriterien mehr.

Nach wie vor studieren überproportional Medizinerkinder Medizin, Arbeiterkinder studieren dagegen recht selten. Gibt es unausgesprochene soziale Selektionsmechanismen im Verfahren der Studienplatzvergabe?

Ich vermute, daß das mehr Selbstselektion ist. Bestimmte Kreise bewerben sich nicht. Es gibt ja freie Studiengänge. Soziologie zum Beispiel. Nach dem Abitur gibt es da keine Selektion. Dann gibt es Studienbereiche, die künstlich knapp gehalten werden...

Das sind oft auch die teuren Studiengänge ...

Auch das. Es ist aber sicher so, daß Leute aus sozial schwächeren Kreisen sich schwächer einschätzen. Die ZVS-Regelungen sind hochgradig bürokratisch, und da können Sie Ihren Platz sogar verbessern, wenn Sie irgendeine soziale Härte nachweisen können, die Ihre Leistung gemindert haben könnte. Die ZVS-Auswahl ist total überreguliert, kein Mensch durchschaut das, und alle zwei Jahre wird es geringfügig modifiziert.

Was soll das?

Die Logik ist: Wir richten die Auswahl aus nach den Wünschen der Studienbewerber, nicht an akademischen Interessen der Universität oder an gesellschaftlichen Interessen. Dem Verfahren liegt der Mythos zugrunde, daß alle Universitäten gleich sind.

Wenn jemand gern Ski fährt, bewirbt er sich nach München...

... und dagegen sind alle fachlichen Kriterien machtlos. Man könnte auch losen.

Das Losen ist doch das Eingeständnis, daß sozial gerechte Kriterien nicht zu definieren sind für die Auswahl.

Das ist ein großes Mißverständnis. Losen gesteht ein, daß wir in bestimmten Fragen mit fachlichen Argumenten nicht mehr weiterkommen. Wenn unter denen, die als fachlich gleichermaßen geeignet angesehen werden, verschafft man der Gleichheitsnorm auf keinem Weg besser Geltung als durch das Los. Nur: Geloste Entscheidungen wirken willkürlich. Der Witz ist: sie sollen willkürlich sein ...

Es geht aber um die Frage, wie Gleiche ungleich behandelt werden können, wenn die Güter nicht für alle reichen.

Wenn Sie über das Schicksal von Dritten entscheiden, wollen Sie selber den Eindruck haben, das das gut begründet ist, der Sache nach. Das ist dann auch wieder ein Mythos, weil wir uns gern einbilden, daß das, was wir bekommen haben, auf eigener Vorleistung beruht. K.W.

Volker H. Schmidt, Brigitte Hartmann: Lokale Gerechtigkeit in Deutschland, (Opladen 1997)