: Die große Lust auf Bewegung
■ Der Spaziergänger: Zur Frühgeschichte einer bedrohten Art
Velofahrer und Skateboarder, Jogger und Inlineskater haben den Spaziergänger auf die rote Liste vom Aussterben bedrohter Arten gesetzt. Nichts könnte den Schwund dieser Spezies besser dokumentieren als das wachsende Interesse der Geschichte, deren jüngstes Ergebnis Gudrun König mit ihrer „Kulturgeschichte des Spazierganges“ vorgelegt hat.
Ihre These: Der Spaziergang ist ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft und ihres neuen, ästhetisch-distanzierten Verhältnisses zur Natur. Noch bis Ende des 18. Jahrhunderts spazierte der Hofadel in geometrischen Parkanlagen nach französischem Vorbild und demonstrierte so seine Herrschaft – „die Bürger schauten zu, dienten als Dekoration für die Entfaltung feudaler Pracht“. Unter dem Stichwort „Promenade“ verzeichnet ein Lexikon anno 1741 einzig die „Promenaden en Carosses“, das Spazierenfahren in der Kutsche, damals eine Mode junger Kavaliere und Edelleute. Sechzig Jahre später hat sich das radikal geändert – „Promenade“ wird nun gleichgesetzt mit „Spaziergang“, und das meint sowohl die Orte des Gehens, die frisch angelegten Spazierwege und Alleen, als auch das Spazieren und Promenieren selbst.
Die Französische Revolution hatte den Bürgern „Lust auf Bewegung“ gemacht. Fußreise, Spaziergang und Wandern dokumentieren ein neues bürgerliches Selbstbewußtsein, das Ideal einer bürgerlich-aktiven Aneignung der Welt. Allen voran die Promenaden etablieren sich als Orte bürgerlicher Selbstdarstellung und Emanzipation – hier vermischen sich die Stände, hier wollen sich die Bürger als prinzipiell Gleiche begegnen. „Geselliges Vergnügen, Sehen und Gesehenwerden, politisches Räsonieren in bürgerlicher Öffentlichkeit, Modenschau und Klatsch werden hier gleichsam im ,Vorübergehen‘ realisiert.“
Noch ist der Gang des Bürgers unsicher, reglemententieren Anstands- und Etikettenbücher das richtige Verhalten beim Spaziergang oder auf der Promenade. Bis ins Detail belehren diese über Körperstellung und Körperhaltung, Bewegungsstil und Gangart: „Ob Schleichen, Trippeln, Schleppen, Scharren oder Stampfen“ – die Art zu gehen warf ein Licht auf soziale Herkunft und Charakter des Gehers. Doch der Freiheitsdrang des Bürgers sucht solch beengende Fesseln abzuschütteln. Allenthalben bilden sich „Vereine gegen das Hutziehen“, die gegen dieses Relikt tradierter Untertänigkeit zu Felde ziehen: „Wie lächerlich und plump ist schon an und für sich das Durchkreuzen der Luft mit dem plötzlich vom Haupt gerissenen schweißtriefenden Hute!“ spottete etwa das Volksblatt aus Württemberg am 27. Mai 1840.
Nur bei vordergründiger Betrachtung jedoch erscheint der Spaziergang als ein Vehikel zur universalen Beförderung bürgerlicher Gleichheitspostulate. Die sorgfältige Untersuchung der Staffagefiguren in über 150 zeitgenössischen Stadtansichten von Stuttgart, Ulm, Tübingen und Wildbad zeigt, daß die Vertreter unterer Schichten dort zwar als Gehende, nicht aber als Spazierende abgebildet werden. Mit dem Zufußgehen als Hauptbewegungsart der unteren Schichten hatte die neue Praxis des Spaziergangs nichts gemein: „Zeit haben“ ist das Privileg des Bürgertums.
Bürgerinnen, so Königs These, hatten an diesem Privileg nur begrenzt Anteil. Zwar boten Kurorte, Bäder und Promenaden auch der bürgerlichen Frau neue Foren für ein Auftreten in der Öffentlichkeit, doch war sie dort stets Objekt taxierender Blicke männlicher Geher. Und der einsame Gang in die Natur blieb ihr gänzlich verwehrt: „Frauenschritte abseits besuchter öffentlicher Promenaden waren allenfalls am Arm des Mannes willkommen.“ Eine allein gehende Frau blieb suspekt und unterlag fast automatisch dem Verdacht der Prostitution.
Als zwiespältig erweist sich auch das Verhältnis zur „freien Natur“. In einer mit Ruhebänken, schattenspendenden Alleebäumen, bekiesten Wegen und Aussichtspunkten durchmöblierten und verhäuslichten „Natur“ empfand man die Präsenz von Jauchegruben und Schweineställen bald nur noch als lästiges Hindernis. Spuren bäuerlicher Arbeit wurden nicht nur aus der Stadt selbst verbannt, „unsaubere Natur“, Gestank und Dreck hatten dort nichts mehr verloren. Werner Trapp
Gudrun M. König, „Eine Kulturgeschichte des Spazierganges“. Spuren einer bürgerlichen Praktik 1780–1850. Böhlau Verlag, Wien 1996, 391 Seiten, 68 DM/sFr
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