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Zuhören muß erkauft werden

Serie „Stets zu Diensten“ (3): Soziale Dienstleistungen könnten Hunderttausende von Arbeitsplätzen schaffen – würden sie vom Staat gefördert  ■ Von Julia Naumann

Wenn Bärbel Ewert nicht nur 1.200 Mark Rente monatlich zur Verfügung hätte – 390 Mark bleiben ihr davon zum Leben, dann könnte die schwerbehinderte Frau sich öfter mal einen Menschen „leisten“: eine Person, die für sie nicht nur abwäscht und das Mittagessen kocht. Sondern jemand, der sie in den Rollstuhl hebt und mit ihr auch mal eine Spazierfahrt durch den Kiez macht. Oder einen Menschen, der sich mit ihr über den spannenden Fernsehkrimi vom Vorabend unterhält, der ihre Teddybärensammlung in der Vitrine im Wohnzimmer bewundert. Eine Person, die Bärbel Ewert einfach zuhört.

Eine halbe Stunde „Zuhören“, „gekauft“ bei einer Sozialstation eines Wohlfahrtsverbandes, würde die 50jährige aber 22,80 Mark kosten. „Psychosoziale Betreuung“ heißt das in der Behördensprache. Die Hauskrankenpflege, die von der Krankenkasse abgedeckt wird, übernimmt nämlich nur das tägliche Waschen, Anziehen, Kochen und Saubermachen. Nach einer verpfuschten Operation am Weisheitszahn und anschließend acht Operationen am Schädel kann sie kaum noch laufen. Dreimal am Tag ist ihr eine Pflegerin zugeteilt. Fürs Zuhören bleibt dennoch kaum Zeit.

Deshalb ist die ehemalige Säuglingsschwester froh, daß sie seit einem Jahr einmal in der Woche für zwei Stunden eine Mitarbeiterin der ABS Brücke besucht. „Mit ihr kann ich endlich alles erledigen“, sagt Bärbel Ewert. Behördengänge zum Beispiel. Einkaufen. Aber auch Reden. Und: Dieser Besuch kostet sie nur drei Mark. „Das ist es wert, dann komme ich wenigstens mal raus der Wohnung“, sagt Ewert. Vorher, von 1993 bis 1996, konnte sie kein einziges Mal ihre Friedrichshainer Wohnung verlassen, weil sie niemanden hatte, der mit ihr eine Spazierfahrt machte.

Getraud Schröder ist eine der 482 Beschäftigten der ABS Brücke, die mit unterschiedlichen Lohnkostenmodellen (ABM, Lohnkostenzuschußprogramme) im weitesten Sinne „Dienste am Menschen“ leisten: Dienstleistungen, die für die KundInnen bezahlbar sind und die auch noch Arbeitsplätze schaffen. Die ehemalige Lehrerin und Sozialpädagogin, die zweieinhalb Jahre arbeitslos war, ist einem der rund 50 Projekte der Brücke angegliedert, das sich „soziale Dienste für ältere und behinderte Menschen“ nennt. Für die 53jährige ist der Job zu ihrem wichtigsten Lebensinhalt geworden, weil er ihrem Berufsleben Perspektive gibt. Ende September jedoch läuft die einjährige Arbeitsbeschaffungsmaßnahme aus. Ob das Projekt eine Zukunft hat, weiß jedoch bisher nicht mal eine der GeschäftsführerInnen der ABS Brücke, Ulrike Ahl.

Die permanente Unsicherheit über die Förderung ist das größte Problem des Unternehmensverbundes, der nach der Wende als Arbeitsfördergesellschaft vom Betriebsrat des DDR-Glühlampenherstellers Narva ins Leben gerufen wurde. „Das ist nicht nur für unsere Beschäftigten eine enorme Belastung, sondern auch für unsere Klienten. Beide haben immer nur ein Jahr Sicherheit“, sagt Ulrike Ahl. Narva hatte, wie fast alle Großbetriebe in der DDR die Beschäftigten und ihre Angehörigen mit Dienstleistungen versorgt: medizinische Betreuung, Mittagstisch und Kinderhort. Diese Tradition sollte von ABS Brücke fortgesetzt werden, nachdem 2.000 Narva-MitarbeiterInnen nach der Wende arbeitslos wurden. ABS Brücke bekam im Jahr 1996 rund 3,5 Millionen Mark Fördermittel vom Senat. Die Bundesanstalt für Arbeit gab im gleichen Zeitraum 22 Millionen Mark. Zum damaligen Zeitpunkt waren es jedoch noch 600 Beschäftigte.

Mittlerweile hat die Brücke vier Tochterunternehmen. Drei davon sind Arbeitsförderbetriebe, werden also vom Bund bezahlt und bekommen eine degressive Förderung vom Land. Spätestens im dritten Jahr ihrer Förderung müssen sie 50 Prozent der Kosten selbst erwirtschaften.

Der Sozialbetrieb schafft durch einen Finanzierungsmix aus öffentlichen Mitteln und privatwirtschaftlicher Tätigkeit Dienstleistungen, die normalerweise sehr teuer wären. ABS Brücke hat es sich wie andere soziale Unternehmen zum Ziel gesetzt, einerseits „sozial benachteiligte Individuen“ in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft (wieder-)einzugliedern und andererseits die Produktion und Bereitstellung sozialer und gemeinnütziger Dienstleistungen zu ermöglichen.

Die Schaffung von „wohnortnahen“ Dienstleistungen – Kinderläden oder Hilfsdienste für Ältere und Behinderte, die Neugestaltung von öffentlichen Grünanlagen oder die Renovierung von Wohnhäusern – könnte ein „großes Beschäftigungspotential“ freisetzen. Das meint Karl Birkhölzer, der an der Technischen Universität ein Forschungsprojekt für lokale Ökonomie leitet. Aber: „Mit diesen Dienstleistungen kann man nicht viel Geld machen, weil die betroffenen Klienten nicht über eine ausreichende Kaufkraft verfügen. Deshalb sind sie für rein private Firmen uninteressant.“

Das Defizit könne deshalb nur ausgeglichen werden, wenn Sozialbetriebe Funktionen übernähmen, die ganz oder teilweise von der Gesellschaft subventioniert werden. „Dadurch entsteht ein Gewinn, weil einerseits Arbeit und Einkommen geschaffen, andererseits durch wirtschaftliche Einnahmen Leistungen ermöglicht werden, die sonst nicht finanzierbar sind“, so Birkhölzer.

Ein Beispiel dafür ist der „Kessel Buntes“ in Friedrichshain, ein weiteres Projekt der ABS Brücke. Dort waschen und nähen Frauen und Männer auf ABM-Basis die Wäsche von sozialbedürftigen älteren Nachbarn. Das Kilo kostet 3,50 Mark, in einer normalen Wäscherei muß man sechs Mark berappen. Kein wirklich großer Unterschied, doch im Preis ist noch viel mehr enthalten als Waschmittel und Bügelservice: Die Wäsche wird auf Wunsch abgeholt und gebracht und, was besonders wichtig ist – ein Schwätzchen ist eingeplant. „Häufig ist der Kessel Buntes für die alten Leute der einzige Kontakt nach draußen“, sagt Koordinatorin Ursula Lukatis und zeigt auf das Telefon: „Was die mir manchmal erzählen, das müßte man mal aufnehmen.“

Auch wenn die Zukunft des Projektes ebenfalls ungewiß ist, haben immerhin zwölf Frauen und ein Mann für ein Jahr einen Job gefunden, mit dem Nebeneffekt, daß 550 mehrheitlich alte Leute versorgt werden – mit frischer Wäsche und sozialen Kontakten.

Bereits 1989 stellte der Arbeitsmarktforscher Horst Albach in einem Gutachten für die Bundesregierung fest, daß persönliche Dienstleistungen Arbeitsplätze in „Millionenhöhe“ schaffen könnten. Würde es gelingen, auch nur zehn Prozent der unbezahlten Haushaltsproduktion, die immer noch fast auschließlich von Frauen geleistet wird, auf den Markt zu verlagern und damit die Haushaltsmitglieder vom Putzen, Waschen, Kochen und der Kinderbetreuung teilweise zu entlasten, könnten bundesweit bis 1,5 Millionen Vollzeitarbeitsplätze geschaffen werden. Geschätzt wird, daß derzeit etwa eine Million Menschen im Wohlfahrtssystem arbeiten, zusätzlich rund 1,5 Millionen ehrenamtlich.

Doch soziale Unternehmen werden trotz ihrer Bedeutung im arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Bereich politisch kaum zu Kenntnis genommen. Sie werden nicht als ein „neuer Unternehmertypus gehandelt“, bemängelt Birkhölzer. Berlin sei nicht besonders fortschrittlich, sondern eher zaghaft. Der Arbeitssenatorin bescheinigt er „gute Ideen“, die aber nicht umgesetzt würden. So gab es Anfang September nur 815 Beschäftigte in 36 Abeitsförderbetrieben. Auch die ABM-Stellen werden immer weniger: Im August waren es nur noch 13.162 Beschäftigte. Dennoch: Die Dienstleistungen an Menschen im Gesundheits- und Pflegebereich werden längerfristig gegenüber den unternehmensorientierten Dienstleistungen immer wichtiger werden. Dies wird allerdings nur teilweise meßbar sein: Viele dieser Dienstleistungen werden nämlich in Schwarzarbeit geleistet.

Bärbel Ewert kann sich jedoch weder einer Gesellschafterin leisten, die offiziell von einer Wohlfahrtsorganisation kommt, noch eine, die sie schwarz bezahlt. Wenn das Arbeitsamt das Projekt der ABS-Brücke nicht weiter finanziert, bleibt ihr als einzige soziale Dienstleistung zur Kommunikation nur noch der Fernseher.

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