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Überlebende des Ghettos um ihre Geschichte gebracht

■ Der unendliche Rechtsstreit zwischen Ghettoforscher Wolfgang Scheffler und den Ghettoüberlebenden von Riga: Professor zahlt Honorare zurück und will Dokumente behalten

Berlin (taz) – Von Autoren, die Manuskripte nicht termingerecht abliefern, wissen alle Verlage Klagelieder zu singen. Die Säumigsten sind in der Regel Professoren, Verzögerungen von mehreren Jahren sind nichts Ungewöhnliches. Mit der in der Zunft üblichen Entschuldigung, – Wissenschaft braucht seine Zeit –, versuchte sich auch der international bekannte Antisemitismusforscher Professor Dr. Wolfgang Scheffler (68) aus einer eingegangenen Verpflichtung herauszuwinden. Die Geschichte klappte aber nicht, ist hochpeinlich und seit voriger Woche um eine Variante reicher. Das vorläufige, wenn auch nicht gute Ende wird am Freitag vom Kammergericht Berlin besiegelt.

Die Kontrahenten des Ghetto- und Konzentrationslagerforschers Scheffler sind Ghetto- und Konzentrationslagerhäftlinge, die Riga überlebten und heute in den USA leben. 275 Mitglieder hatte der New Yorker „Society of Surviver of the Riga Ghetto“, als sie Ende 1991 endlich einen kompetenten Wissenschaftler fanden, der ihre Leidensgeschichte aufschreibt. „Es sollte ein Buch werden, das wir unseren Enkelkindern in die Hand geben können, damit sie wissen, was passiert ist“, sagt Vizepräsident Herman Ziering (76), der 1941 von Kassel nach Riga deportiert wurde.

Bis Mitte 1994 sollte das Buch fertig sein. Insgesamt 161.700 Mark brachten die Mitglieder auf, davon 40.000 Dollar Honorar, 30.000 für Archivreisen und 57.000 Dollar für wissenschaftliche Mitarbeiterinnen. Dazu bekam Scheffler noch viele Dokumente, darunter Tonbänder, auf denen Überlebende ihre Geschichte erzählen. Sie sind unersetzlich, viele der Berichterstatter sind längst gestorben. Der Verband vertraute „Freund Wolfgang“, man gab ihm Kisten und Kasten ohne Quittung und, was am Schlimmsten ist, ohne Kopien davon zu machen.

Aber Scheffler lieferte nicht. Seine Mitarbeiterinnen reisten durch die Archive, häuften Materialberge an, der Verband drängelte, aber außer von neuen Geldforderungen war von Scheffler nichts zu hören. Immer wieder verlängerte der Verband den Abgabetermin. Als sie am 31. 12. 1995 erst 26 von 400 Seiten in Händen hatten, kündigten sie den Vertrag und übergaben die Geschichte einem Anwalt.

Letzten Oktober kam es zum ersten Prozeß. Scheffler verlor vor dem Landgericht Berlin in allen Punkten (taz vom 26. 10. 1996). Aber der Professor ging in die Berufung. Der Antisemitismusexperte behauptete, daß der eigentliche Konflikt sein Anspruch, „wissenschaftlich genau zu arbeiten“ wäre. Dies würde dem Verband nicht in den Kram passen. „Unsinn“, sagt dazu Ziering, „wie sollen wir nach 26 Seiten ein ganzes Buch bewerten. Wir wollten unser Geld und die Dokumente zurück, damit wir einen neuen Autoren suchen können. Wir haben nicht mehr viel Zeit.“

Der morgige Prozeß in zweiter Instanz ist seit voriger Woche entschärft, bleibt aber in der Sache genauso tragisch. Völlig überraschend übermittelte Scheffler wenige Tage vor dem Gerichtstermin dem Berliner Anwalt Karl Georg Wellmann einen Scheck von 184.000 Mark, einschließlich Schreiben, daß die Zahlung kein Schuldeingeständnis sei. 184.000 Mark, das ist exakt die Streitsumme, plus die Gerichtskosten der ersten Instanz. Heute geht es daher nur noch um den Kostenentscheid für die zweite Instanz.

Seit Übergabe des Scheck wird in der Zunft gerätselt, wer die Kosten übernommen hat, um damit den aus Nazi-Prozessen renommierten Gutachter aus der Kritik zu nehmen. Anwalt Wellmann und Herman Ziering freuen sich zwar über das Geld, finden die Zahlung kurz vor Gerichtstermin aber „sehr, sehr merkwürdig“. Denn Scheffler habe alle Kompromißangebote, nämlich Rückgabe der Dokumente plus die von seinem Team gesammelten Materialien mit der Klagesumme zu verrechnen, stets abgelehnt. „Er hat gezahlt, um die Dokumente behalten zu können“, meint Ziering.

Dies halten auch frühere Kollegen von Scheffler nicht für abwegig. In der Branche ist Scheffler dafür berühmt, geradezu manisch alle Archivalien in seinem Privathaus zu bunkern und damit die Forschung objektiv zu blockieren. Ein Lied kann davon auch die von Jan Philipp Reemtsma finanzierte „Stiftung Wissenschaft und Kultur“ singen, die seit Jahren mit Scheffler über ein nicht geschriebenes Buch im Streit liegt. Am Riga-Projekt ist Reemtsma interessiert. Aber auch dafür braucht man die Dokumente. Sie herauszuklagen wird schwierig sein, denn dafür müßte jedes einzelne Blatt Papier genau spezifiziert werden. Zudem könnte auch bei einem neuen Verfahren der Professor Berufung einlegen, dann würde sich das Drama bis zum Jahre 2000 hinziehen. Viele Ghettoüberlebende werden das Buch ohnehin nicht mehr erleben: Seit Vertragsbeginn mit Scheffler sind 40 Vereinsmitglieder gestorben. Anita Kugler

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