piwik no script img

Schreiben gegen die Zeit

Er mißtraute stets dem schnellen Fortschritt – und widmete sich so der Vergangenheit. Er erlebte früh eine Wiedervereinigung – und reagierte daher mit Skepsis auf die deutsche Einheit. Günter Grass, ein deutscher Dichter, wird morgen siebzig.  ■ Von Jörg Magenau

Der Name Grass führt in Gesprächen zu seltsamen Reaktionen: indigniertes Stirnrunzeln, schmerzverzerrte Gesichter, Mitleidsbekundungen. Grass? Gräßlich. Grass wird 70? O je, auch das noch. Das Geständnis, ihn gar nicht so schlecht zu finden, ruft die stereotype Antwort hervor: „Aber ,Ein weites Feld‘ war doch wirklich unlesbar!“ Wie sinnvoll ist es, gegen dieses Urteil all die nicht nur lesbaren, sondern großartigen Romane von Grass aufzuzählen, ob „Butt“ oder „Rättin“, von der Danziger Trilogie ganz zu schweigen? Der Steidl Verlag hat sie nun alle in einer in weinrotes Leinen gebundenen, stattlichen Werkausgabe versammelt. Dazu gibt es die „Blechtrommel“ auf 22 CDs, vom Meister persönlich vorgetragen – Gelegenheit zum Wiederlesen, Ersthören und Neuentdecken.

Aber es nutzt nichts. Ist ja alles lange her. Es scheint, als seien seit dem Getöse um das „Weite Feld“ alle Sachverständigen sich darüber einig, in Grass nur noch den alten Mann zu sehen, der nicht mehr viel versteht von unserer postmodernen Gegenwart im wiedervereinigten Deutschland; den Dinosaurier des ausklingenden Intellektuellenzeitalters, der es nicht lassen kann, vor sich hinzugrummeln und Rauch auszustoßen, auch wenn niemand mehr auf seine Warnungen und Mahnungen hört; den Ritter von der traurigen Gestalt, verfangen in prophetenhafter Geltungssucht und Autoreneitelkeit.

Doch dann, vorige Woche, dies: Die Zeit widmete ihm die ganze Seite 1. Riesiges Foto, fette Überschrift: „Günter Grass, deutscher Dichter“. Ist er tot, fragte man sich erschrocken? Bekommt er endlich den verdienten Nobelpreis? Wird er zum Bundespräsidenten gewählt? Aber es war nur der Geburtstag, und die Zeit schmetterte vor lauter Eifer eine Woche zu früh mit ihrem Ständchen los. Seit dem Wettlauf um den frühesten Verriß von „Ein weites Feld“ geht es nicht mehr anders. Jetzt müssen auch Geburtstage vorverlegt werden wie Erscheinungstermine.

Grass selbst hat seinen Geburtstag einmal versuchsweise gleich um zehn Jahre vordatiert. „Ich, Jahrgang 1917“, schrieb er in „Kopfgeburten“. „1933 wäre ich sechzehn und nicht sechs Jahre alt, bei Kriegsbeginn zweiundzwanzig und nicht zwölf Jahre alt gewesen.“ Dann, so überlegt er weiter, hätte wohl auch er sich für großräumige Ziele begeistert, die Danziger SS- Heimwehr hätte mit ihm rechnen können, und seine Vorliebe für expressionistische Wortballungen hätte ihn brauchbare Texte für stimmungsvolle Morgenfeiern oder naturbeflissene Lyrik auf den Spuren Hans Carossas dichten lassen. Und wir müßten heute über den 80. Geburtstag des längst vergessenen Innerlichkeitsnazis Günter Grass keine Zeile verlieren.

Doch Grass teilt mit Kohl die „Gnade der späten Geburt“. Im Unterschied zum Kanzler hat er das allerdings nie als Aufforderung verstanden, sich aus der Geschichte davonzustehlen, sondern die Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld, phantasiebegabt und knapp davongekommen, um so intensiver zu führen. 70 also, nicht 80, wird er morgen, und so verlieh ihm die gern kanonisch denkende Zeit die höchste Weihe: „Deutscher Dichter“. Da sitzt er nun, Pfeife rauchend, in einer Reihe mit Goethe, Thomas Mann und Brecht, vor denen er allerdings einen Vorzug genießt: Er lebt noch und hört nicht auf, eigensinnig und unbeirrbar seine Meinung kundzutun. Vor ein paar Tagen erst nannte er in einem Fernsehinterview die Bonner Regierung eine Versagerrunde und den amtierenden Innenminister einen Rechtsradikalen. Die Vorliebe für deutliche Worte schützt ihn davor, jetzt schon im Regal der Deutschen Klassiker endgelagert zu werden. Klassiker beschimpfen keine lebenden Politiker.

Eigentlich stammt der deutsche Dichter Grass aus Polen – vielmehr aus dem Freistaat Danzig, und um Danzig, die in der Vergangenheit versunkene Heimat, drehen sich die meisten und besten seiner Bücher. „Ein Schriftsteller, Kinder, ist jemand der gegen die verstreichende Zeit schreibt“, heißt es im „Tagebuch einer Schnecke“. Schon die „Blechtrommel“ war eine große Übung in der „Kunst des Zurücktrommelns“, dem Wiedererstehenlassen der Vergangenheit in der Literatur durch die Kraft der Phantasie. Der Vorort Langfuhr, in dem Grass aufwuchs, ist nicht nur Fluchtpunkt der Jugenderinnerungen, sondern zugleich ein Modell für die ganze Welt: „Langfuhr war so groß oder so klein, daß alles, was sich auf dieser Welt ereignet oder ereignen könnte, sich auch in Langfuhr ereignete oder hätte ereignen können“, heißt es in „Hundejahre“. Und so wurde das Örtchen Langfuhr zu einer Hauptstadt der Weltliteratur.

1939 erlebte Grass dort, zwölf und eben nicht 22 Jahre alt, zum ersten Mal eine Wiedervereinigung. Diese frühe Erfahrung eines aggressiv-nationalistischen Heim- ins-Reich-Denkens mag einer der Gründe sein, die ihn so skeptisch auf die neue deutsche Einheit reagieren lassen. Die deutsche Teilung war für ihn ein durchaus sinnvolles „Brandmal unserer Geschichte“, wie er 1990 in der Poetikvorlesung „Schreiben nach Auschwitz“ formulierte, ein Erinnerungssiegel, das mit der Wiedervereinigung ausgelöscht zu werden drohte. Doch so richtig er mit seiner skeptischen Sicht in Einheitsdingen lag, die Befürchtung, mit 1989 werde ein neuer Schlußstrich gezogen, hat sich nicht bestätigt. Die Debatten um Klemperer und Goldhagen oder das Holocaust-Mahnmal belegen eher das Gegenteil: Die deutsche Geschichte ist nicht teilbar und immer nur als Ganzes zu haben.

Grass' Lieblingsvorstellung, die deutsche Teilung in einer Konföderation der beiden Staaten aufrechtzuerhalten, hatte nie eine Chance. Ihm hätte auch die „Kulturnation“ genügt. Denn wenn die Kultur und nicht die DM einheitsstiftende Kraft gewesen wäre, hätte einer wie Grass mehr zu sagen gehabt. Der Barockdichter Grimmelshausen, neben Döblin sein großes Vorbild, hatte es in dieser Hinsicht im Zeitalter der Kleinstaaterei leichter. Nicht ohne heimliche Sehnsucht beschrieb Grass in „Das Treffen in Telgte“, welche einheitsstiftende Bedeutung der Literatur damals zukam. Nach 1989 aber schien es eher darum zu gehen, den Einfluß der Literaten zurckzudrängen. Christa Wolf im Osten, Günter Grass im Westen wurden harsch auf Normalmaß zurechtgestutzt. Um so überraschender, daß er jetzt, zum siebzigsten Geburtstag, seine Rehabilitation und Beförderung erlebt.

Eines kann man Grass sicher nicht vorwerfen: Opportunist zu sein. Er hielt immer dagegen, wo sich alle anderen einig waren. So trat er 1968 mutig vor ein Ho-Chi- Minh-brüllendes Auditorium in der FU Berlin und brüllte zurück: „Ich weiß nicht genug vom Vietcong, um ihm den Sieg zu wünschen.“ Und nicht weniger mutig und ziemlich allein versuchte er, nach 1989 den „Schweinsgalopp“ der Einheitseuphorie zu bremsen. Grass, der Antihegelianer, mißtraut stets dem schnellen Fortschritt. Gegen Hegels stürmischen „Weltgeist zu Pferde“ setzt er auf die Schnecke als Wappentier, auf ihre Beharrlichkeit, Verletzlichkeit, Langsamkeit. Sein „Tagebuch einer Schnecke“ aus dem Jahr 1972 ist ein Plädoyer für eine evolutionäre, reformerische, sozialdemokratische Weltsicht. Obwohl Grass der SPD erst 1982 beitrat (der Austritt erfolgte 1992), war er seit 1961 wiederholt auf Wahlveranstaltungen für Willy Brandt, insbesondere im legendären Wahlkampf 1972, aufgetreten. Heute allerdings sagt Grass, er sei damals wohl zu optimistisch gewesen. Heute sieht er nur noch Stagnation. Aus dem engagierten Intellektuellen, der mitmischen und verändern will, ist in den 90er Jahren ein melancholischer Fatalist geworden: rien ne va plus.

So wendet er sich wieder den bescheidenen Dingen zu, den Gegenständen seiner häuslichen Umgebung, der Natur und den Jahreszeiten. Er schreibt kleine, fast beiläufige Verse und verbindet sie mit Bildern. „Fundsachen für Nichtleser“ heißt sein neues Buch, ein Bild- und Lyrikband, mit dem er, der gelernte Bildhauer und Künstler, der literarisch als Autodidakt mit einem Gedichtband debütierte, zu seinen Anfängen zurückkehrt. Man kann an diesem Buch deutlich sehen, warum Grass als Schriftsteller und nicht als Maler berühmt wurde. Die naturalistischen Bilder wirken in ihrer schlichten Gegenständlichkeit wie aus dem Aquarellierkurs einer Volkshochschule. Eine Jacke, ein Fisch, ein Baum, zwei Stiefel, eine Schreibmaschine: Jedes Ding – und das ist typisch für Grass – wird unmetaphorisch betrachtet und bedeutet nichts als sich selbst. Erst aus der Verbindung mit Versen beziehen die Bilder einen eigenen Reiz, entwickeln Witz und lassen erkennen, wie Grass, vom Detail ausgehend, arbeitet. So stehen neben dem Bild einer Schubkarre die lakonischen Worte: „Eine Schubkarre sollte man für alle Fälle im Haus haben. Plötzlich kommt ein altbekannter Feind auf Besuch, fällt tot um; wohin dann mit ihm?“ Oder zum Bild eines Beutels voller Nüsse: „Mit einem Sack Nüsse will ich begraben sein und mit neuesten Zähnen. Wenn es dann kracht, wo ich liege, kann vermutet werden: Er ist das, immer noch er.“

Verse und Bilder können bei Grass die Keimzelle eines ganzen Romans sein. Schreiben und Zeichnen gingen bei ihm immer Hand in Hand. Zu den Worten unterhält er ein ähnliches Verhältnis wie der Bildhauer zum Stein. Für Grass gibt es keine semiotischen Probleme, sondern ein urtümliches Vertrauen in die Sprache: Das Ding und das Wort sind identisch. Daher rührt die ungebrochene Sprachgewalt seiner Romane, daher vielleicht auch seine immer neue Enttäuschung in der Politik, wenn das Benennen von Mißständen nichts an ihnen ändern kann. Denn nur in der Literatur läßt sich aus Worten ein eigenes Weltgebäude errichten – eine Welt allerdings, die gesättigt ist von Wirklichkeit. In einem Essay von 1970 heißt es: „Wenn ich ein Gedicht über verlorene Knöpfe schreibe, wird es sich kaum vermeiden lassen, neben vielen privaten und peinlichen Gründen auch politische zu nennen, die zum Verlust von Knöpfen führten; mit anderen Worten: Die Politik ist Teil der Wirklichkeit, also wird die Literatur – immer auf der Suche nach Wirklichkeit – die Politik nicht aussparen oder verdrängen können.“

Günter Grass' Stärke ist es, daß er vom peinlichen Privaten nicht schweigt, wenn er von Politik spricht. „Literatur“, sagte er einmal, „hat keinen Grund, sich über Politik und ihre Verbrechen zu erheben; sie hat ihren Anteil daran.“ Deshalb kann er es sich auch leisten, gegenüber dem Politischen so unversöhnlich zu sein. Deshalb hält er jedes Engagement für banal, das sich im Besitz einer höheren Moral glaubt. Deshalb ist er so unbequem für alle Verdränger und Beschöniger der Wirklichkeit. Mit Grass sind wir noch lange nicht fertig, und er nicht mit uns. Günter Grass, ein weites Feld, und, ja doch, ein deutscher Dichter.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen