: Verantwortlich: Wir alle?
■ Hartes Urteil: Jugendgang trieb 17jährigen in den Selbstmord
„Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil“ – eine Standardformel, mit der jeder Richterspruch beginnt. Im Hamburger Prozeß um den Tod des 17jährigen Mirco, der sich nach monatelangen Erpressungen durch eine Jugendbande vor einen Zug warf, trifft sie den Kern eines Problems. Die Justiz spricht ein Urteil, „das Volk“ hat seine Stimme und damit auch seine Verantwortung an eine staatliche Instanz delegiert.
Die Hamburger Richter haben die jugendlichen Täter, die nicht nur Mirco monatelang terrorisierten, zu empfindlichen Freiheitsstrafen verurteilt. Das mag strafrechtlich die einzig angemessene Reaktion sein, das nötige Signal auch für all diejenigen, die Jackenabziehen, Geldabknöpfen oder drohendes Messerfuchteln vor dem Gesicht der eigenen Mitschüler für eine coole Mutprobe halten. Und doch wirft, bei aller Klarheit, gerade dieses Urteil mehr Fragen als Antworten auf. Andere Strafverfahren hinterlassen Fassungslosigkeit über die Täter. Dieses hier verlangt Nachdenken über die Opfer. Und dafür gibt es kein Gericht.
Über einen Zeitraum von drei Jahren konnten die jetzt Verurteilten im Hamburger Stadtteil Neuwiedenthal Gleichaltrige terrorisieren. Keiner hat das registriert – weder Eltern noch Lehrer, weder Sozialarbeiter noch Polizei –, bis der siebzehnjährige Mirco den Druck nicht mehr ausgehalten hat. Wie gut muß man das Wegschauen perfektioniert haben, um monatelange Angst und Verzweiflung nicht zu bemerken? Keines der jugendlichen Opfer hatte erwachsene Ansprechpartner, die vertrauenswürdig und engagiert genug erschienen, um sich ihnen zu offenbaren. Zu denjenigen, die ihre Bezugspersonen sein sollten, haben viele Jugendliche längst den Bezug verloren. Sie sind ihrer eigenen Welt überlassen, von deren Härte und deren heimlichen Gesetzen Erwachsene keine Ahnung haben und am liebsten nichts wissen wollen. Augen zu, die Jugend wird schon durchmarschieren. Allein – isoliert offenbar auch untereinander – gegen die Mafia. Bis die Schwächsten auf der Strecke bleiben.
Die Justiz kann die Täter wegsperren, sie vielleicht sogar resozialisieren. Nur in welche Gesellschaft? Solange ein Gemeinwesen jede Aussicht auf Hilfe illusorisch erscheinen läßt, schafft es sich seine eigenen Opfer – und produziert neue Täter. Vera Gaserow
Bericht Seite 2
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen