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Fernsehkritiker schalten niemals ab

Andere dürfen sich gruseln, dürfen weggucken und alle 11,4 Minuten weiterzappen – Fernsehkritiker sitzen starr mit ihrem Kugelschreiber da. Warum Fernsehkritiken schreiben und Fernsehen einander ausschließen  ■ Von Klaudia Brunst

Wenn ich abends nach der Arbeit nach Hause komme, drücke ich als erstes auf den Knopf. Einfach, damit der ganze unsinnige Ballast des Tages aus meinem Kopf verschwindet. Fernsehen macht den Kopf frei.

Besonders die Ratgeber- und Magazinsendungen der Dritten Programme sind hervorragendes Heimkehrerfernsehen: Zu welcher Tageszeit sonst hätte man die Zeit, sich für „Stichwort: Wein und Gesundheit“ auf Hessen 3 zu interessieren? Oder für die „Telethek“, die „Service-Zeit“ bei NDR oder die Themen des MDR-Ratgebers „Unter sex Augen“? Vor allem die Programme der neuen Bundesländer schwelgen noch in „Gut zu wissen“-Formaten und belehren mich im Dämmerlicht des Feierabends, daß ich mangelhafte Kaufhausware natürlich auch dann umtauschen darf, wenn sie heruntergesetzt wurde. Daß Curry verbrennt, wenn man ihn zu früh zum Bratgut gibt, und daß es für den Fall der Fälle sinnvoll ist, die Gerätenummern aller elektronischen Geräte griffbreit bei seinen Hausratsversicherungsunterlagen zu haben.

Lauter nützliche Tips, die man irgendwann einmal gebrauchen könnte – an diesem Abend sind sie für mich so und beruhigend unnötig wie der Filmbricht über das „Überleben des Condors in den Anden“ oder die „Turbo-Kids“ auf dem Weg in die Formel 1.

Das Heimkehrerfernsehen ist der sanfte Übergang vom harten realen Leben draußen in die weiche Privatheit des Fernsehabends: Noch dringen die Imperative des Lebens – Sorge vor! Koche schmackhaft! Liebe deine Familie! – mit all ihren komplexen Zumutungen in die Geborgenheit meines Wohnzimmers. Aber schon nicht mehr so unvermittelt wie im richtigen Leben. Nein. Hier wird es mir behutsam beigebracht von einer schmucken jungen Dame oder einem vertrauenserweckenden älteren Herrn. Und vor allem – und das ist das Wichtigste –, worüber immer ich mich gerade belehren lasse: es interessiert mich nicht! Denn noch ist der Ernstfall ja nicht eingetreten, noch steht mein Haus, fliegt der Condor, koche ich nicht mit Curry. Das Problem der Fernsehkritik wird immer darin bestehen, daß sie einzelne Bausteine aus einem viel größeren medialen Entwurf herausgreifen muß, um diese als singuläres Ereignis zu betrachten.

Dabei ist die Rezeptionssituation des Kritikers eine völlig unwirkliche: Wenn ich mich am Abend mit meinem Kugelschreiber aufs Sofa lümmele, sagt meine Freundin enttäuscht: „Mußt du schon wieder arbeiten?“ Denn dem Fernsehkritiker ist praktisch alles versagt, was Fernsehen unterhaltsam macht: Langweilt er sich, darf er nicht umschalten. Gruselt er sich, muß er trotzdem hinschauen. Klingelt es an der Tür, darf er nicht öffnen.

Dabei ist Fernsehen nur flüchtig schön. Singles, so weiß man inzwischen, schalten statistisch alle 11,4 Minuten um. Fernsehkritiker schalten nie ab. Das Fernsehen leistet eine spezifische Form der Beziehungsarbeit, die für das Medium konstituierend ist. Im Vorgang des Über-das-Fernsehen- Schreibens ist diese Beziehungsarbeit aber denkbar schwer zu fassen: Das Fernsehen redet mit mir. Pausenlos, auf allen Kanälen, seit einiger Zeit sogar rund um die Uhr. Anders als das Theater oder das Kino, das letztlich auch ohne Publikum existieren könnte, braucht das Fernsehen mindestens einen Zuschauer, um überhaupt Fernsehen zu sein. Denn das klassische „Guten Abend allerseits“ von Heribert Fassbender, das beiläufige „Gutenabend, meinedamenundherren“ der „Tagesschau“ setzen ein Gegenüber voraus. Wen sonst würde Heribert Fassbender grüßen? Wen würde Hans Meiser ums Dranbleiben bitten? Die Wissenschaft nennt das parasoziale Interaktion, ich nenne das „Das Geheimnis des Erfolgs“. Ich bin ein kontaktfreudiger Mensch, ich unterhalte mich gerne – vor allem am Abend und vor allem in meinem Wohnzimmer. Mit dem Fernsehen empfange ich jeden Abend Besuch, ich kann ihn hereinbitten, wann immer es mir paßt, und problemlos wieder verabschieden, wenn sich etwas Besseres bietet.

Natürlich würde ich die sogenannte orthosoziale Interaktion – die sich gelegentlich mit dem Klingeln an meiner Haustür ankündigt – jederzeit dem Fernsehen vorziehen. Aber wer erträgt schon jeden Abend sooo viele Freunde?

Zu einem Glas Wein mit guten Bekannten verabredet man sich – das Fernsehen ist eigentlich immer schon da, wenn du nach Hause kommst. Kaum je besteht es noch auf ein präzises „Hallo, hier bin ich!“ oder ein finales „Herrje, ist es schon spät! Jetzt muß ich aber wirklich aufbrechen.“ Im Gegenteil: Das Fernsehen erfordert nicht einmal mehr meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Anders als mein orthosozialer Besuch hat das Fernsehen eine Mute-Taste. Ein Knopfdruck – und der Gast ist stumm. Natürlich ist solcherlei Mediengebrauch dem Fernsehkritiker verboten. Er trifft schon von Berufs wegen nur feste Verabredungen: Hier der neue „Schimanski“, dort die zweite Staffel von „girl friends.“ Wie macht sich Gaby Bauer in ihrer ersten „Tagesthemen“-Woche? Wird Harry Wijnvoord zum Abschied von der „Preis ist heiß“ eine Träne quetschen? Lauter Fragen, die auf eine professionelle Antwort warten.

Ich glaube, daß Fernsehen eigentlich ganz anders funktioniert, als wir Fernsehkritiker immer behaupten. Als Fernsehzuschauerin bringe ich dem Zauberkasten ein gleichförmiges, interessiertes Desinteresse entgegen. Mit dem naiven Gestus des „Mal schauen, was heute kommt...“ schaue ich hin und stelle fest, daß trotz des Überangebots von 30 Rund-um-die- Uhr-Kanälen natürlich mal wieder nix kommt. Trotzdem bleibt der Kasten an. Denn es ist gut, daß nix kommt. Nur weil das Fernsehen kein unumgängliches Ereignis bereit hält, ist es mir überhaupt gestattet, ein wenig bummeln zu gehen: Bei Herrn „Derrick“ reinzuschauen, um festzustellen, daß noch alles beim alten ist. Dem „Förster von Falkenau“ „Grüß, Gott“ zu sagen und mich einen Augenblick lang zu „Expeditionen ins Tierreich“ aufzumachen.

Wenn ich je in Zweifel gerate, ob mir meine mediale Kompetenz womöglich über Nacht abhanden gekommen ist, mache ich rasch den Zapping-Test: Selbst ohne Ton braucht ein geübter Fernsehzuschauer selten mehr als ein, zwei Augenblicke, um sich im Fluß der Bilder zu orientieren: Das muß ein mäßiges B-Picture sein... zapp... Hier residiert das Kulturfernsehen... zapp... Ach, Gott! „Schreinemakers“... Obacht! Eine Sondersendung!... Was ist das? Das ist irgendwie zu groß fürs Fernsehen... Aha, der FilmFilm! Kino im Fernsehen. Kein Wunder, daß das den Rahmen sprengt.

Als Fernsehkritikerin habe ich selten Gelegenheit, nach Lust und Laune medial spazierenzugehen. Mein privates Bedürfnis nach Regression, Agressionsabfuhr oder warmen Farben interessiert den Leser nicht. Als Fernsehkritikerin muß ich immer gleich wachsam sein, Fehler entdecken und Qualität loben. Wer sonst würde sich darum kümmern, daß es in deutschen Wohnzimmern mit Sitte und Anstand zugeht? Tatsächlich ist die Fernsehkritik, allen anderslautenden Schimpftiraden zum Trotz, eine wichtige Institution für das Fernsehschaffen. Gelegentlich ehrt uns sogar die Praxis mit dem Geständnis, daß wir (ja wir!) Schlimmeres verhütet haben:

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So gab Eduard Zimmermann dieser Tage freimütig preis, daß er der Fernsehkritik im nachhinein auch dankbar sei: Die nicht abreißende, harsche Kritik an seinem „Aktenzeichen XY“ habe ihn immer wieder zur Sorgfalt ermahnt. Und sicher hat auch die „Gewaltdebatte“ oder das Entsetzen über das Trash-TV so manchen jungen Sender dazu bewogen, vorerst auf Gummihosen im Nachmittagsprogramm zu verzichten. Alles ein gutes Werk derer, die tagtäglich mit dem Kugelschreiber vor dem Fernseher sitzen.

Trotzdem ist professioneller Zweifel immer wieder angebracht. Was, so frage ich mich, fangen wir eigentlich mit den täglichen Einschaltquoten an, die so selten das adeln, was wir ausgezeichnet finden? Wie gehen wir um mit dem Ergebnis einer Forsa-Umfrage, derzufolge jeder vierte Zuschauer glaubt, daß in den Nachmittagstalkshows sowieso „alles Lüge“ sei? Und immerhin jeder zweite unterstellt, daß mindestens „hin und wieder gelogen wird?“ Welchen Nutzen ziehen diese Leute daraus, Hans Meiser zu gucken, wenn sie doch glauben, Hans Meiser lügt? Und warum regen wir Fernsehkritiker uns eigentlich noch so auf, wenn sich hinter irgendeiner spanischen Wand irgendein Michal Born telegen in die Gummihosen scheißt? Sind wir etwa die letzten medial Ungeübten, die noch an die Macht des gesprochenen Worts im Fernsehens glauben? Das Fernsehen ist immer dann großartig, wenn es flüchtig, geschwätzig, alltäglich, banal ist. Gelegentlich – wenn es schlecht drauf ist – wird es sogar geschmacklos. Im Fernsehen feiert das Kleine große Feste, das große Ereignis wird dagegen zum bedeutungslosen Programmpunkt. Manchmal tut es geradezu weh, sich das einzugestehen: denn besonders als Fernsehkritiker hätte man es doch so gern groß und erhaben. Dann aber würde es nicht mehr ins Wohnzimmer passen. Dann wäre das Fernsehen kein Fernsehen mehr.

taz-Chefredakteurin Klaudia Brunst, von 1994 bis 1996 verantwortlich für unsere Medienseite, bekam am Donnerstag auf den vom Adolf-Grimme-Institut veranstalteten „Marler Tagen der Medienkultur“ den „Bert-Donnepp-Preis für Medienpublizistik“. Aus diesem schönen Anlaß machte sie sich die vorstehenden Gedanken zur Fernsehkritik.

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