: Jugendgewalt: SPD wendet sich Ursachen zu
■ Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion informierte sich über die "Prävention gegen Jugendkriminalität". Kritik an vergangenen Law-and-order-Parolen. Vorzeigbare Anti-Gewalt-Projekte sind vorha
Bonn (taz) – „Wir haben lange über die Ursachen von Kriminalität diskutiert und zuwenig über deren Bekämpfung“, sagte der mögliche SPD-Kanzlerkandidat Gerhard Schröder am 20. Juli und eröffnete damit das Rennen um die besten Law-and-order-Parolen. Härtere Strafen, weniger Toleranz, Herabsetzung der Strafmündigkeit hießen die Schlagworte.
„Das alles halten wir für schlicht falsch“, sagte der stellvertretene Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Otto Schily, am Donnerstag in Bonn zu Beginn der Diskussionsveranstaltung „Prävention gegen Jugendkriminalität“. Er fand die Stimmen einiger „führender“ Genossen „nicht geglückt“. Auch die Kieler Landesregierung warnt in einem 50-Seiten-Papier vor einer Politik, die sich im Ruf nach strengeren Gesetzen und Urteilen erschöpfe. Es sieht so aus, als versuche die SPD, die Geister loszuwerden, die sie in Hamburg und Hannover selbst gerufen hat.
Ob das daran liegt, daß sie nach dem Wahldebakel in Hamburg keine Lust mehr auf einen Wahlkampf zur Inneren Sicherheit hat? Oder will man, wie der Vorsitzende der Projektgruppe Kriminalitätsbekämfpung der SPD-Fraktion, Jürgen Meyer, sagte, ein „Bündnis gegen Jugendkriminalität“ möglich machen, in dem „wilder Aktionismus“ keinen Platz hat?
Wie man „das Problem an der Wurzel packt“, wollten die Sozialdemokraten von rund 150 zur Diskussion geladenen Praktikern wissen. Jörn Meyer von der „Jugendhilfe Cottbus e. V.“ beschrieb ein Projekt, in dem sich zum guten Ende Autonome und Skins gegenseitig die Haare geschnitten hätten. Als kleiner Verein habe man 1991 angefangen, Jugendlichen aus der Hausbesetzerszene ein Haus für Wohngemeinschaften und ein Szenecafé zu besorgen. Mittlerweile hat der Verein 48 Mitarbeiter. Sie arbeiten als Streetworker, suchen mit den Jugendlichen „Arbeit statt Sozialhilfe“ und geben „flexible Erziehungshilfen“.
Jugendliche brauchen Perspektiven. Darin waren sich die SPD- Politiker mit den geladenen Gästen einig. Jürgen Meyer und Otto Schily sehen in der „zunehmenden Armut von Kindern und Jugendlichen“ und der „desolaten Arbeitsmarkt- und Lehrstellensituation“ die Ursachen für ein Anwachsen der Jugendkriminalität. Laut Polizeistatistik ist die Zahl der Tatverdächtigen unter 18 Jahren in den letzten drei Jahren von 320.000 auf rund 400.000 gestiegen. Die Täter werden immer jünger und gewalttätiger.
Um die „härtesten der harten“ Gewalttäter kümmert sich Michael Heilemann. Er ist Psychologe in der Jugendvollzugsanstalt Hameln. Zwölf Trainer sollen in acht Monaten aus sieben jugendlichen Gewalttätern „friedliche Schläger“ machen, erklärt der Psychologe den SPD-Politikern. Mit Entspannungs- und Anti-Blamier- Training sollen die Raufbolde zur Räson gebracht werden. Sie sollen aber nicht nur lernen, Provokationen und Peinlichkeiten zu ertragen, sondern ihre eigenen Stärken kennenlernen. Sie bekommen Rhetorik- und „Flirttraining“ und sollen beim „Gehirnjogging“ im Kopf die Muskeln spielen lassen. Das klingt wunderbar — und teuer.
Die Mittel, die das niedersächsische Justizministerium für das „Anti-Aggressivitäts-Training“ zur Verfügung stellt, reichten seit 1985 zur Therapie von 115 Jugendlichen. Nach Heilemanns Nachforschungen sind von 84 Absolventen nur vier wieder wegen einer Körperverletzung vor Gericht gelandet. Sie wurden freigesprochen. Der Leiter der Anstalt, Hansjürgen Eger, würde gerne zwei zusätzliche Therapiegruppen ins Leben rufen.
Vielen Projekten fehlen Geld und Personal. In Berlin müssen zwei bis drei Streetworker Stadtbezirke mit bis zu 300.000 EinwohnerInnen betreuen. Den Jugendhilfeprojekten in Ostdeutschland fehlen die Gelder des Aktionsprogramms gegen Aggression und Gewalt (AgAG) des Bundesjugendministeriums, da dieses 1996 ausgelaufen ist. Von 122 geförderten Projekten gibt es trotzdem noch 108.
Im November will die SPD- Fraktion ihre Eindrücke von der Diskussionsveranstaltung in einen Entschließungsantrag einfließen lassen. Dann antwortet die Bundesregierung auf ihre Große Anfrage zu Jugendstrafrecht und Präventionsstrategien. Mit Law-and- order-Parolen? Thilo Richter
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