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„Eine Therapie habe ich dort nicht gemacht“

Im Prozeß um den Mord an der zehnjährigen Kim Kerkow sagte der Angeklagte aus. Bürger prostestierten  ■ Aus Oldenburg Jürgen Voges

„Gewalt geht uns alle an“ stand auf den schwarzumrandeten Karten, die zum Gedenken an die im Alter von zehn Jahren ermordete Kim Kerkow gestern morgen vor dem Landgericht Oldenburg an schwarzen Ballons in die Luft aufstiegen. Den „Opferanwalt“, „mehr Prävention“, „Kinderbeauftragte“ verlangten die vielleicht 60 Mitglieder der „Initiative Kim e. V.“ Auf einem der Transparente war auch „Strafe statt Therapie“ zu lesen. Denn die halten die älteren Damen und Herren der „Aktion gegen Gewalt und sexuellen Mißbrauch an Kindern und Jungendlichen“ für ineffektiv und für zu teuer.

Von Therapie, „die ich gebraucht hätte“, spricht dann zwei Stunden später drinnen im Gerichtssaal der Angeklagte, als er vor der 5. Großen Strafkammer im niedersächsischen Oldenburg über seinen Lebenslauf berichtet. Rolf D. redet leise, aber er versteht sich auszudrücken, auch wenn Worte wie „Verdrängung“, mit denen er dem Gericht seine Taten zu erklären versucht, bei ihm laienhaft klingen. Der junge Mann, der Ende des Jahres 35 wird, spricht davon, daß er sich „nie etwas zugetraut hat“. Daß er seit dem elften Lebensjahr Gewaltphantasien gehabt habe, „weil ich mich nicht wehren konnte“. Später versichert er, daß „er normalerweise ein sehr friedlicher Mensch“ sei. Er könne niemanden etwas tun, „wenn ich nicht in diesem Bewußtseinszustand bin, wo diese schrecklichen Dinge geschehen“.

1979 und 1997 – im Abstand von achtzehn Jahren hat Rolf D. zwei Kinder erdrosselt. Sein erstes Opfer war ein elfjähriges Mädchen aus der Nachbarschaft, das er als Sechzehnjähriger zufällig abends getroffen hatte. Für seine Tat wurde er 1981 zu sechs Jahren Jugendstrafe wegen Totschlags verurteilt worden. „Ich habe dort keine Therapie gemacht. Ich habe das alles verdrängt, war nicht in der Lage mich mit der Tat auseinadersetzen.“ Mit diesen Worten beschrieb Rolf D. seine dreijährige Haftzeit in der Jugendanstalt Hameln. Die Psychologin, die ihn für den damaligen Prozeß untersuchte, hielt ihn keineswegs als schwer gestört, sah Rolf D. mit seinen beiden älteren Schwestern, dem Zwillingsbruder und den Eltern in geordneten und glücklichen Familienverhältnissen. Heute spricht der Angeklagte von einem autoritären Vater, einer Mutter, die nur durch Prügel mit den vier Kindern fertig wurde. Er schildert sich als überangepaßt gegenüber den Eltern. Deswegen habe er der Gutachterin damals die glükliche Familie vorgespielt. Über seine Gewaltphantasien, Minderwertigskeitsgefühle und Ängste habe er erst nach dem zweiten Mord sprechen können. Einmal muß die Verhandlung unterbrochen werden, weil Rolf D. in Tränen ausbricht. Doch in diesem Augenblick ist nicht von seinen Taten die Rede, sondern vom ambivalenten Verhältnis des Angeklagten zu seiner Mutter, davon, daß er ihr als Kind den Tod wünschte, wenn sie ihn nackt übers Knie legte und schlug.

Ob der Angeklagten, der auch zwei kleine Jungen mißbrauchte, psychischen Störungen ausgeliefert war, hat das Gericht jetzt zu prüfen. Auf Antrag der Verteidigung und Nebenklage wurden gestern die Zuschauer vorerst von allen Vernehmungen und Gutachten ausgeschlossen, in denen es um das Intimleben des Angeklagten und um die Details des Mordes an Kim Kerkow geht.

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