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Von handteller- bis dackelgroß

Ratten sind Haustiere im wahrsten Wortsinn, doch keiner mag sie gern streicheln. Im Gegenteil, bis auf eine verschwindend kleine Fangemeinde ist man eher mit ihrer möglichst vollständigen Vernichtung beschäftigt. Und hält die Ratte für schlimmer als die Pest. – Alles Projektion. Das Alter ego des Menschen nistet seit jeher in vielfältigen Visionen vom Untergang, in Labyrinthen und Unbewußtem. Eine Tier- und Menschengeschichte Von Heide Platen

Tiere und Kinder ziehen immer, sagen Politiker, Journalisten und Werbeagenturen. Ratten aber ziehen nicht. Sie sind widerborstig. Unbestritten sind sie zwar Haustiere, aber ganz und gar ohne Pet- Appeal.

„Ja, ja, die Ratten werden uns überleben“, sagt statt dessen ein sonst ganz gescheiter Ökologie-Redakteur mit resigniert gesenkter Grabesstimme und verweist auf besonders groß geratene Mäuse rund um Tschernobyl. Ob die nun durch die Atomstrahlung so prächtig gediehen sind, oder bloß, mangels zum Beispiel menschlicher Nahrungskonkurrenz, besonders gut im Futter stehen, sei dahingestellt. Die Angst vor den Folgen des eigenen Tuns wird auf die Ratten projiziert. Ratten sind, was sich beweisen läßt, Projektionstiere. Die Ratten, einerseits neugierig, andererseits oppurtunistisch, konditionierbar, anpassungsfähig, bodenständig und konservativ, sind das Alter ego des Menschen. Die Angst vor dem Nahrungskonkurrenten Ratte, der die menschlichen Scheuern und Kammern ratzeputz kahlfrißt, ist da noch die realste und harmloseste, gut dafür, den Hochrechnern der Welternährungslage und fortschritts- und chemiegläubigen Ernteertragssteigerern um jeden, noch so giftigen Preis Feindbild zu sein wie Mehltau, Getreiderost und Kartoffelkäfer.

Die Krankheitsüberträgerin Ratte als Schädling an der Volksgesundheit ernährt im Namen der Hygiene ganze Industriezweige und Forschungsabteilungen. Daß doch immer eine die Vernichtungsaktionen überlebt, läßt Gedanken über die Vergeblichkeit solchen Tuns auch dann aufkommen, wenn die Mißerfolge in Ballungsräumen tatsächlich meist auf Fehlern der Anwender beruhen, die die Mittelchen zu niedrig dosieren und damit die ihnen so unheimlich scheinende Widerstandsfähigkeit erst erzeugen, die dann wiederum noch stärkerer Gifte bedarf. Ratten werden von vielen Menschen aber auch ohne das als eklig empfunden. Daß menschliche Tierphobien eben angeboren seien, haben gerade in jüngster Zeit immer wieder behavioristische Verhaltensforscher zu beweisen versucht. Das mag vielleicht für gefangene Menschenaffen gelten, die nie eine Schlange gesehen hatten, trotzdem aber wütend auf Stücke schwarzen Gartenschlauchs einprügelten. Die Angst vor den Nagern jedoch speist sich – unter anderem – aus der Tatsache, daß die Tiere Wirt des Rattenflohs sind, in dessen Verdauungstrakt das Bakterium Yersinia pestis lebt. Dieser Zusammenhang aber ist erst 1894 entdeckt worden. Da war die Pest in Europa bereits seit über hundert Jahren verschwunden.

Rattenangst kann also weder genetisch verankert noch eine durch lange, menschheitsgeschichtliche Erfahrung erworben sein. Daß Ratten sich vermehren wie die Ratten und die Menschenwelt in grauen Fluten überschwemmen und vernichten könnten, nährt vor allem die Umsatzzahlen diverser Horror- und Fantasy-Autoren. Hohe Fertilität schreckt die Menschen nur bei der eigenen Spezies nicht. Daß Ratten- Armeen gezielt handeln und ganz besonders riesige Generale haben, die kriegerisch, zerstörerisch, entmenscht zur Vernichtung jedweder anderen Spezies schreiten, projiziert der Homo sapiens deshalb auch lieber spiegelbildlich auf die der Ratten.

Aber auch die einzelne Ratte kann sich von der kleinen, nicht einmal handtellergroßen Maus zur Dackelgröße auswachsen. Dazu mindestens mutierten während meiner Recherchen die meisten jener verhuschten Nagetiere, die Freunden und Bekannten auf Straßen und in Kellern je im Leben begegnet waren. Allesfressend knabbert sich die Ratte aber auch da ins menschliche Unbewußte, wo ihr Alter ego in die Irre geht. Im Labyrinth, dem Vorraum zur Hölle, wird sie nicht orientierungslos, sondern ist ganz bei sich zu Haus. Womit wir spornstreichs bei den dunklen Orten sind, an denen Phantasieratten besonders gerne siedeln: unter den Röcken der Frauen.

Sexualität ist von den Ratten ebensowenig zu trennen wie der ihnen stets nachfolgende Schwanz. Und das ist auch der Rattenangst Kern: der Schwanz, der rosa geringelte, dünn behaarte, nackt scheinende. Jedenfalls vordergründig, denn das hinterwendig mit dem obszönen Schwänzlein ausgestattete Viech ist vorderseitig auch noch mit scharfen Nagezähnen bestückt, die sich, Kinderreime darüber gibt es zuhauf, sonstwo hineinnagen könnten – in dunkle Löcher unter feuchtwarmen Röcken zum Beispiel. Daß reale Ratten das mitnichten tun, versichern Zoologen da vergeblich.

Daß Rattenpanik eine Männerphantasie sei, legt nicht nur die Mitgliederstatistik der Vereins der Rattenzüchter und -liebhaber nahe. Neunzig Prozent der bundesweit rund 600 Rattenfans sind Frauen, die nicht kreischend die Röcke raffen, sondern ihre Rättchen zärtlich Schnuppernasen und Knopfaugen nennen. Der Psychoanalytiker Sigmund Freud geht dem Rattenschwanz in seiner Fallstudie eines Zwangsneurotikers, „Der Rattenmann“, an die Wurzel und beschreibt frühkindliche Ursachen für nagendes Grauen und unüberwindlichen Ekel ebenso wie die dem Patienten unbewußte Identifikation mit den kleinen, schmutzigen, verachteten Nagern.

Der holländische Zoologe Midas Dekkers, der die Affenliebe, die die Menschen in diesem Jahrhundert zu ihren Haustieren entwickelt haben, als den „Gipfel der Dekadenz“ und „Zeichen von Verfall“ brandmarkt, hat eine Beliebtheitsskala der Tiere aufgestellt, zu der sowohl Menschenähnlichkeit als auch Streichelbarkeit zählen.

Die Ratte aber hat menschenähnliche Pfötchen, Kulleraugen und ist, lassen wir den zu Unrecht als feucht und glitschig assoziierten Schwanz beiseite, weich und flauschig. Walter Benjamin, des falschen Gefühls nicht verdächtig, schrieb in „Einbahnstraße“: „Beim Ekel vor Tieren ist die beherrschende Empfindung die Angst, in der Berührung von ihnen erkannt zu werden. Was sich tief im Menschen entsetzt, ist das dunkle Bewußtsein, in ihm sei etwas am Leben, was dem ekelerregende Tiere so wenig fremd sei, daß es von ihm erkannt werden könne. – Aller Ekel ist ursprünglich Ekel vor dem Berühren.“

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