„Der Mann, der mehrere Leben lebte“

■ Jacques Schusters Biographie des Pastors, Preußen und Patrioten Heinrich Albertz

Die Person Heinrich Albertz provoziert viele Fragen. „War er konservativ oder linksliberal? War er Anwalt unbequemer Minderheiten oder der eisenharte Studentenschreck von 1967?“ Der junge Berliner Historiker Jacques Schuster legte jetzt eine Biographie vor, die einen vielschichtigen Menschen „voller Widersprüche“ zeigt: „Der Mann, der mehrere Leben lebte“, wie es treffend im Untertitel heißt. Der Autor will sich nicht von der faszinierenden Persönlichkeit des späten Heinrich Albertz, des nachdenklichen, weisen und abgeklärten Mahners blenden lassen, sondern er will wissen, „wer Albertz wirklich war“. Schuster charakterisiert ihn als Pastor, Preußen und Patrioten. Dominierten Albertz in den ersten Nachkriegsjahren noch die Werte der Bekennenden Kirche, überwog später der Preuße, „dessen Ansichten von Ordnung, von Dienen und Gehorchen seinen Berliner Genossen auf die Nerven fielen und ihn in der Politik scheitern ließen“. Bis dahin, bis zum 2. Juni 1967, dem Todestag des Studenten Benno Ohnesorg, war es noch ein weiter Weg.

Albertz trat 1946 der SPD bei. Doch schon früh wird deutlich, daß ihn „Parteiarbeit“ nicht interessierte. Der Pastor hatte offenbar ein seltsames Demokratieverständnis, folgt man Schuster. Albertz, der ohne Fürsprache Willy Brandts niemals Regierender Bürgermeister geworden wäre, „fühlte sich von Gott ins Amt berufen, um den Menschen zu dienen“, schreibt Schuster. Eine Einstellung, die sich nach dem 2. Juni 1967 bitter rächen sollte, als er im Herbst des Jahres auf die Unterstützung seiner Partei bei der Umbildung des Senats angewiesen war. Die Genossen verweigerten die Gefolgschaft, Albertz mußte zurücktreten.

Der 2. Juni 1967 mit dem Tod Benno Ohnesorgs wird für ihn zum „Gerichtstag Gottes“. Im Stil einer Reportage schildert Schuster fesselnd die Ereignisse an diesem sonnigen Frühlingstag. Albertz fühlte sich nicht wohl in seiner Haut bei dem Gedanken, mit dem Schah von Persien, diesem „Tyrannen“, allein gelassen zu werden. Und dennoch weist er den Polizeipräsidenten nach den Eierwürfen von Demonstranten vor der Deutschen Oper am Abend an: „Wenn ich herauskomme, ist alles sauber.“ Diese unnachgiebige Haltung behält er auch bei, als er vom Tod des Studenten erfährt. Duensing hatte zunächst erfolgreich verschleiert, daß Ohnesorg durch eine Polizeikugel starb. Erst als Albertz den Obduktionsbericht in den Händen hielt, wurde ihm klar, daß sein Polizeichef gelogen hatte. „Nun ging für ihn eine Welt unter.“ Dieser Prozeß, den Schuster Schritt für Schritt beschreibt, macht ihn zu einem neuen Menschen. Für den Biographen kehrte Albertz zu seinen Ursprüngen zurück, zu den frühen Jahren, als er Flüchtlingspastor und Sozialminister war. Zuspruch bot ihm dabei der evangelische Landesbischof Kurt Scharf, der ihn in eine neue Rolle, die des Vermittlers zwischen Senat und Studenten, drängte.

Noch einmal holt Albertz seine Vergangenheit ein. Als der CDU- Politiker Peter Lorentz im Februar 1975 von Mitgliedern der „Bewegung 2. Juni“ entführt wird, verlangen die Terroristen, der „Pfarrer und Bürgermeister a.D.“ solle die freigepreßten Gesinnungsgenossen auf ihrem Flug ins Ausland begleiten. Einfühlsam schildert Schuster die Begleitumstände, die Predigt, die Albertz noch einen Tag zuvor in seiner Gemeinde in Berlin-Schlachtensee hält. Nach dem unblutigen Ende des Geiseldramas fand Albertz seine endgültige Aufgabe. Er war kein Politiker mehr, auch nicht mehr Pastor, sondern ein politischer Geistlicher, der immer dann seine Stimme erhob, wenn er Unrecht zu erkennen glaubte.

Was man vermißt, ist der späte Albertz. Auch wenn er sich manchmal fragte, ob und was die vielen Unterschriftenlisten gebracht haben, so empfand er sich bestimmt nicht als „Klagemauer der Nation“. Und nicht zuletzt vermißt man in der Biographie von Jacques Schuster den humorvollen Menschen, der die Tagespolitik auch schon mal spöttisch kommentierte, um dann gleich wieder ernst zu werden, wenn es ihm ernst wurde mit seinem Einsatz für amnesty international oder gegen die Nachrüstung. Der Politiker, der eben gerade wegen seiner biographischen Brüche, seiner Ecken und Kanten, eine Glaubwürdigkeit ausstrahlte, die man heute oft vergeblich sucht. Denn nur beide Teile ergeben ein ganzes Bild von dem Menschen Heinrich Albertz. Rüdiger Saßnick

Jacques Schuster: „Heinrich Albertz“. Alexander Fest Verlag, 360 Seiten, 44 DM